Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
schwach nach der vorletzten Geburt; es wären Zwillinge gewesen.«
»Sie starb im Kindbett?«
»Nein; die letzte Schwangerschaft liegt schon eine ganze Weile zurück. Aber sie schien danach nicht mehr richtig leben zu wollen, wenn Ihr mich versteht. Sie verwelkte wie eine gepflückte Blume.«
Sie schluckte.
»Es tut mir leid«, sagte Philipp. »Ich wollte Euren Kummer nicht wecken.«
Sie schniefte und zuckte mit den Schultern. Philipp wandte sich ab und suchte nach einem anderen Thema. Die frisch aufgebrochene Stelle fiel ihm ins Auge.
»Ist kürzlich noch jemand verstorben?« fragte er. Sehr taktvoll , dachte er gleich darauf; tröste nur immer mit dem einen Tod über den anderen hinweg.
Dionisia folgte seinem ausgestreckten Finger mit den Augen, aber eine andere Stimme antwortete hinter ihm: »Das ist der verdammte Versuch, einen neuen Brunnen zu graben.«
Philipp drehte sich um. Radolf stand hinter ihm und musterte die aufgebrochene Erde mit gefurchter Stirn und zusammengebissenen Zähnen. Er wirkte erhitzt, aber sein Wams war trocken, und Philipp fragte sich, wo er während des Regens gewesen sein mochte.
»Der alte Brunnen in der Küche versiegt«, erklärte Radolf. »Schon seit Monaten; er tut es langsam, aber sicher. Als ich sah, daß die Alte beim Wasserschöpfen beinahe hineinfiel,so tief mußte sie sich darüberbeugen, begann ich damit, einen neuen zu graben.«
»Weshalb trocknet er aus?« fragte Philipp und bemühte sich, nicht an die Worte des Pferdeknechts zu denken.
»Einen Gulden für den, der es mir sagen kann. Während des letzten Herbstes hat der Fluß seinen Lauf geändert; nicht weit, nur ein paar hundert Fuß. Vielleicht liegt es daran.«
»Und der neue Brunnen?«
»Ein vergebliches Loch im Boden«, knurrte Radolf.
»Wer hat Euch die Stelle gezeigt? Habt Ihr einen Rutengänger im Dorf?«
»Nein«, sagte Radolf nach einer kleinen Pause. Er sprach fast widerwillig. »Ich habe mir die Stelle selbst ausgesucht.« Dionisia öffnete den Mund, aber Radolf warf ihr einen scharfen Blick zu, und sie schwieg. Sie schürzte die Lippen und blickte trotzig zu Boden. Radolf starrte mit finsterem Blick auf das Grab seiner Frau, auf dem sich die frischen Blumen wie bunte Tränen von der feuchten, dunklen Erde abhoben. Seine Brauen zogen sich zusammen, als er das Stück Kuchen erblickte, und sein Gesicht wurde bleich.
»Was ist das?« fragte er rauh.
»Es ist von mir«, erklärte Dionisia und warf den Kopf in den Nacken.
»Dionisia, sie ist tot!« flüsterte Radolf erstickt.
»Es heißt, daß auch die Toten der Nahrung bedürfen«, erwiderte sie ungestüm. »Sie war meine Mutter: Wenn es stimmt, will ich sie nicht hungern lassen.«
Radolf antwortete ihr nicht, wenngleich sein Mund arbeitete. Seine Augen zuckten zwischen ihr und dem Grab hin und her.
»Ich habe an die Knochen gedacht, die ich letztens hinter dem Friedhof fand«, fuhr sie leiser fort. »Etwas wurde dort gegessen. Vielleicht war sie es; vielleicht war es einer meiner Brüder.«
»Dionisia!« schrie Radolf auf und erschauerte. Er schlang nur die Arme um den Körper und drehte sich so brüsk um, daß er fast gestolpert wäre. Dann hetzte er aus der Gegenwart seiner Tochter und der Opfergabe auf dem Grab seiner Frau davon. Philipp und Dionisia folgten ihm langsam. »Was meinen Auftrag betrifft ...«, begann Philipp, als sie ihn auf der Treppe zum donjon wieder eingeholt hatten.
»Richtig, dein Auftrag«, erwiderte Radolf heiser. Er schaute ihn einen Augenblick an, ohne etwas zu sehen, dann griff er in sein Wams. Er zog ein altes, vielfach abgeschabtes Pergament hervor.
»Ich habe dir aufgeschrieben, was mir einfiel«, sagte er. »Damit kannst du nach Hause zurückkehren und zu arbeiten beginnen.«
Philipp nahm das Pergament und warf einen Blick darauf. Radolf hatte in hastigen Zeilen ein paar Daten und Namen daraufgeworfen. »Reicht das?« fragte er.
»Es reicht zumindest soweit, um mir die Suche nach den Originaldokumenten zu erleichtern.« »Wofür brauchst du die?«
»Beinahe jede Schreibstube verwendet für ihre Dokumente eine eigene Schrift, um Fälschungen zu vermeiden. Die Unterschiede sind oftmals nicht groß: eine Unterlänge bei diesem Buchstaben, ein Schnörkel bei einem anderen. Wenn man eine Fälschung anfertigen will, die auch vor kritischen Augen Bestand haben soll, braucht man solche Details. Die finde ich nur in den originalen Dokumenten.«
»Ich sage dir doch, daß alles verbrannt ist.«
Philipp warf
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