Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
das Gesicht eines Mannes gewesen, der die Verdammnis vor sich sieht. Philipp hatte einen derartigen Ausdruck bereits einmal gesehen: auf dem Gesicht eines Mannes, der des Verrates an seinem Herrn wegen zum Tode verurteilt gewesen war.
Der Verurteilte war zum Tod durch Sturz von einem Felsen verdammt worden: die übliche Strafe für einen Mann, der seinen Herrn verraten hatte. In Ermangelung eines Felsen, der hoch genug gewesen wäre, hatte man ihn von der höchsten Plattform des donjons gestoßen. Vielleichtfühlte sich Radolf angesichts seiner Zukunft wie der Verurteilte, der in die sechzig Fuß Tiefe blickte, die sich vor ihm auftat, die Hand des Henkers bereits auf seiner Schulter. Der Priester murmelte ein Gebet und nickte dem Henker zu. Eine Gestalt stürzte schreiend durch die Luft.
Der Aufprall beendete das Schreien.
In dieser Nacht träumte Philipp, daß er am Fuß eines hohen Turms stand und nach oben blickte. Vom Turmkranz blickte Dionisias Gesicht herab. Er wußte, daß er dringend zu ihr nach oben gelangen mußte, aber die Tür am Fuß des Turms wurde von einem Mann blockiert, der ihm den Rücken zuwandte. Der Mann war nicht Radolf. Er sprach ihn an, und der Mann drehte sich um und starrte ihn reglos an. Sein Gesicht war Philipp unbekannt; aber mit der Träumen eigenen Klarsichtigkeit wußte er, daß er es schon einmal gesehen hatte und daß er es bereuen würde, wenn er sich nicht schnellstens erinnerte. Über seinem verzweifelten Bemühen erwachte er und lag verwirrt blinzelnd in der Dunkelheit, für eine längere Weile zwischen Realität und Traum verloren.
Radolf träumte, daß er am Rand eines schnell fließenden Gewässers stand. Eine niedrige, steile Böschung, die vom Wasser ausgespült war, führte hinab. Er wußte, daß sich ihm etwas von hinten näherte, aber er konnte sich nicht umdrehen. Ein Tier näherte sich ihm. Das Tier stieß ihn an, und er stürzte die Böschung hinunter. Er hörte sich vor Angst schreien, und seine Eingeweide hoben sich. Er fiel minutenlang, obwohl die Böschung niedrig war, und er fiel ebenso langsam wie unaufhaltsam. Zuletzt berührte er die Wasseroberfläche und wurde sofort von der Strömung davongerissen. Er erwachte schwitzend und mit einem entsetzten Schrei auf den Lippen, den niemand hörte.
Dionisia träumte davon, daß der Saal im Haus ihres Vaters in Flammen stand. Die Flammen lachten. Dionisia erwachte nicht. Der Alptraum war ein alter Bekannter.
Liebe und Betrug
P hilipp brach nach dem Morgenmahl auf. Das Wetter hatte sich zum Guten gewandt, und wie es oft im Frühsommer geschieht, war zusammen mit der Sonne auch eine überraschende Hitze gekommen, die jedoch nur verhieß, daß ihr ein heftiges Gewitter nachfolgen würde. Die Luft über den Feldern flimmerte bereits am frühen Vormittag, und Philipp, der wie jeder allein Reisende den Wald fürchtete, war doch froh, schließlich in seinen Schatten einzutauchen. Die Straße war eng und holprig, fast zugewachsen, selten beritten, noch weniger befahren, und zog sich auf diese Weise etliche Meilen unter den Bäumen dahin, bis sie den Wald wieder verließ und zuerst auf die Lichtungen von Köhlern, dann auf die Felder stieß, die bereits zu den Besitzungen diesseits des Rheins gehörten. Der Wald schien dazu beizutragen, daß ein Besucher von Radolfs Besitz sich wie in einer anderen Welt fühlte, die nur einen verwunschenen, wenig bekannten Zugang besaß. Wiederum nach einigen Meilen, etwa der Hälfte der Strecke zwischen Radolfs Haus und der Stadt, wurde die Straße breiter und traf schließlich auf eine Kreuzung, lang vorher angekündigt durch die hochragende Eiche, die dort wuchs und die den glaubenseifrigen Äxten der frühen Missionare entgangen war; ihr heidnischer Zauber aber unschädlich gemacht durch die drei Kruzifixe, die davor aufgestellt waren. Philipp zügelte sein Pferd und schaute unschlüssig der Straße nach, die in Richrung Süden von der Kreuzung wegführte. Sein Ziel, die Stadt und dahinter Raimunds Gut, lagen im Westen. Im Süden lag Sankt Peter, der Ort von Philipps Jugend. Radolf hatte gesagt, es würden sich keine Originaldokumente mehr dort finden, aber Philipp, dessen Bekanntschaft mit dem Archivar nicht nur so dahingesagt gewesen war, glaubte nicht daran. Bruder Fredgar hatte kaum etwas aus der Hand gegeben, ohne davon Abschriften zu machen. Andererseits hätte Philipp auch gewettet, daß der Archivar keinerlei ausnutzbare Schwäche besaß, und doch schien Radolf eine gefunden
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