Der Jakobsweg
wehren, ich bin müde und traurig, da wird es wohl das Beste sein, mich in diesem Loch zu verkriechen.
Wie konnte es geschehen, daß ich ausgerechnet in ein Obdachlosenheim geraten bin? Nach schier endlosen Stunden auf der Autoschnellstraße zweigte nahe der Ortschaft San Marcos ein Fahrweg ab und führte auf einen flachen Hügel - ich sah unten eine große Stadt liegen: Santiago de Compostela! Das Ziel!
Es war der »Monte de Gozo«, Berg der Freude, auf dem ich stand. Hier sollen die Pilger mit Tränen in den Augen niedergesunken sein, gebetet und Gott gedankt haben, daß er sie durch alle Gefahren sicher ans Ziel gebracht hat. Da lag sie nun, jene Stadt mit dem Grab des Apostels, der ihre Gedanken während des langen, mühseligen Weges gegolten hatten. Endlich angekommen! Mit Freude im Herzen zogen die Pilger, die sich hier oben versammelt und sich jauchzend und schluchzend umarmt hatten, hinunter in die Stadt ihrer Sehnsucht. Und da stimmte jemand die Verse des Pilgerliedes »Ultreya« an. Sogleich nahmen alle die Melodie auf, und so kamen sie in Santiago an, verbunden durch ihre Freude und den Gesang. Ich hörte ihre Stimmen nachhallen bis in unsere Gegenwart, und vernahm die Verse, die ich in dem Pilgerführer aus dem Mittelalter gelesen hatte:
Deum Pater familias Als Gottvater,
rex universorum der König des Himmels,
donaret provincias die Herrschaft über die Länder
ius apostolorum unter die Apostel verteilte,
Jacobus Hispanias sandte er Jakob als
lux illustrât morum. leuchtendes Vorbild nach Spanien.
Primus ex apostolis Jakob, der erste Märtyrer
mártir Jerosolimis unter den Aposteln, ist heilig
Jacobus egregio durch sein edles Martyrium
sacer est martirio zu Jerusalem
Herru Sanctiagu Herr Sankt Jakob
grot Sanctiagu Großer Sankt Jakob
e ultreya vorwärts jetzt
e suseia und immerdar
Deus aia nos! Gott helfe uns!
So sangen sie. Ich aber verspürte keinen Freudenrausch. Seltsam nüchtern stellte ich nur fest, daß ich nun wohl angekommen war. Das sollte mein Ziel sein, diese große Stadt? Aber was hatte ich denn anders erwartet? Etwas Besonderes, ohne mir dessen jedoch ganz bewußt gewesen zu sein. Ich fühlte mich plötzlich innerlich sehr müde. Ich dachte, ich müßte einfach an diesem Wirrwarr der Dächer, Kirchtürme vorbei wandern, einem imaginären Ziel entgegen, ohne jemals anzukommen.
Ich blieb lange auf dem Monte Gozo stehen und versuchte mich auf Santiago einzustellen. Langsam gelang es mir sogar, mich zu freuen: In der Stadt werde ich die anderen Pilger treffen, wir werden zusammen essen, Wein trinken und unsere Ankunft feiern.
Es waren nur noch fünf Kilometer - fünf Kilometer Autostraße! Es gab keinen anderen Weg, um in die Stadt zu kommen. In mir staute sich Groll. Ich verglich meine Ankunft im Gestank der Lastkraftwagen mit dem freudigen Einzug der früheren Pilger. Ich hatte doch ebenfalls wie sie alle Entbehrungen auf mich genommen, bin jeden Meter zu Fuß gegangen, aber mir blieb die Belohnung am Schluß versagt. Enttäuscht stand ich auf dem Platz vor der Kathedrale. Ein imposantes Bauwerk mit Barockfassade und emporragenden Türmen. Ich fühlte mich vorerst nicht in der Lage hineinzugehen. Erst müßte ich die anderen finden. Ich brauchte Menschen, um die Ernüchterung zu überwinden und fragte nach dem refugio. Schließlich wies mir jemand den Weg. In der Herberge mußte ich meinen Paß abgeben. Ich war mit meiner negativen Stimmung so beschäftigt, daß ich nicht auf das hörte, was der Herbergsleiter sagte. Die unerwartete Auskunft, daß noch kein einziger Pilger außer mir da sei, verwirrte mich vollends. Der Mann zeigte mir das Zimmer und fragte mich, ob ich wirklich bleiben wolle, denn die Eingangstür würde jetzt gleich abgeschlossen werden. Da begriff ich, daß es keine Pilgerherberge, sondern ein Obdachlosenheim war. Ich hätte sofort meinen Rucksack greifen und verschwinden können, aber ich hatte das Gefühl, die
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