Der Jakobsweg
Alle 500 Meter stehen diese Granitblöcke, einen Meter hoch, nicht zu übersehen. Sie machen mich nervös. Ein hektischer Countdown in 500-Meter-Distanzen: - 68 - 67,5 - 67 - 66,5 -... Kilometer bis Compostela! Ich wehre mich dagegen, daß mein Wandern zu einer Kilometerabhakerei entartet. Ich versuche, die Steine zu ignorieren, an ihnen vorbeizuschauen, die Zahl nicht zu lesen, und doch kann ich nicht verhindern, in den Sog der Zahlen zu geraten.
Was in Navarra und Kastilien der rote Mohn war, ist in Galicien der violettfarbene Fingerhut. Allenthalben prunkt er als hohe Staude am Wegesrand.
Am Himmel formieren sich verrückte Wolkenbilder, geheimnisvolle Zeichen, wie Hieroglyphen. Schnell verwirbeln sie, es bilden sich Kreisel und zerrissene Fahnen, aus denen sich wenig später eine »Schrift« formt. Die Wolkenränder schimmern in irisierenden Farben. Und die Sonne ist von einem buntfarbenen Ring umgeben. Ich kann mir vorstellen, wie ähnliche Naturerscheinungen mitunter zu Wundererlebnissen geführt zu haben. Denn der Gedanke liegt dem Menschen nahe, daß ungewöhnliche Erscheinungen etwas zu bedeuten haben. Was abweicht vom Üblichen, muß einen Grund haben, und da ihn die Menschen nicht kennen, werden sie verunsichert und in angsterfüllte Erwartung versetzt. Wenn sie die Erscheinung auf sich beziehen, werden sie glauben, entweder ausgezeichnet oder bestraft zu werden. Die Erregung, die Erwartung, das fixierende Hinschauen bewirkt im Gehirn Schwingungen, eine Art Hypnose, während der es Bilder unserer eigenen Phantasie produziert. So kann es passieren, daß diese Menschen in ihrer Vorstellung ganz wirklich die Muttergottes und andere Gestalten sehen und hören. Ich will ein Experiment machen und versuche mir einzubilden, dieser besondere Himmel mit dem großen irisierenden Kreis um die Sonne und den wirbelnden Hieroglyphen sei ein Zeichen für mich. Ein Zeichen, weil ich so brav gepilgert bin und morgen vor den Toren von Santiago de Compostela stehen werde. Aber schon dieser Gedanke erscheint mir lächerlich und absurd. Ich stelle mir vor, wie die Wassertropfen über 10000 Meter hoch gerissen werden. Dort gefrieren sie zu Eis. Das Sonnenlicht bricht sich in den Eiskristallen, deshalb können wir den Haloring um die Sonne sehen. Und die »Hieroglyphen« entstehen, weil heftige Stürme in den oberen Luftschichten die ebenfalls gefrorenen Zirruswolken auseinanderreißen. Und das alles wegen mir? Ich denke, der Himmel hat genug mit sich selbst zu tun, ihm ist es egal, ob ich nach Santiago gehe oder nicht. Dennoch freue ich mich über die Lichterscheinungen. Übrigens haben mich die drei Baumaugen, von denen Don Rafael gesprochen hatte, nicht angeblinzelt.
Ich meine, Wunder können tatsächlich passieren. Dann nämlich, wenn man an sie glaubt. Alle Wunder entstehen in unseren Köpfen. Der Mensch vermag viel mehr, als er selbst weiß. Unter besonderen Umständen entwickelt er Kräfte und Fähigkeiten, die er sich nicht erklären kann. Er könnte deshalb Angst vor sich bekommen. Deshalb braucht er eine Erklärung für das Ungewöhnliche, er findet sie, indem er sich außerirdische Kräfte vorstellt, himmlische Wesen, göttlichen Geist.
- 54 - 53,5 - 53 - 52,5 - 52 -... die Zahlen nehmen von mir Besitz. Morgen bin ich in Santiago! Unglaublich, der lange Weg soll so schnell schon zu Ende sein? Seit 34 Tagen bin ich unterwegs, morgen ist der 35. Tag! Mehr als 1000 Kilometer sind es gewiß, mit allen Umwegen zu den abseits gelegenen Klöstern und Kirchen. Ich versuche, mich an alles zu erinnern, was ich während der Wanderung erlebt habe, ich bemühe mich, in Gedanken meinen Weg zurückzuverfolgen. Es gelingt nicht! Die Gedanken wollen nicht in die Vergangenheit schweifen, sie stürzen nach vorn, auf Santiago zu.
Ich bücke mich, hebe ein abgefallenes Eukalyptusblatt auf und zerreibe es zwischen den Fingern. Der Duft ist stark. Ich rieche ihn gern. Eukalyptusbäume sind schön, die Stämme gleichmäßig wie Säulen. Das Holz schimmert glatt und fest wie Marmor. Beim leichtesten Luftzug rascheln die lanzettförmigen Blätter. Wegen ihres besonderen Geruches, ihrer schlanken Schönheit und der silbergrauen Laubkrone, die sich filigran gegen das Himmelsblau abhebt mag ich sie ganz besonders. Aber ich weiß auch, daß Eukalyptusbäume der Umwelt Schaden zufügen. Man muß sich nur einmal umsehen in einem Eukalyptuswald, kaum eine andere Pflanze kann dort gedeihen. Denn das Laub des Eukalyptus ist hart und imprägniert
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