Der Jakobsweg
ihm befinden sich die Propheten und Apostel. Sie haben individuelle Gesichtszüge: nachdenklich, weise, ernst, gütig, aber auch spitzbübisch und pfiffig.
Der Innenraum der Kathedrale ist, im Gegensatz zu der pompösen Außenfassade, wohltuend schlicht und einfach. Ein Raum, um zur Besinnung zu kommen. Ich denke an María, die ich an der Straße in Astorga traf, die sich nach ihren Enkeln sehnt und der ich versprach, in der Kathedrale für sie zu beten. Ich bedanke mich bei ihr und allen, denen ich unterwegs begegnete, und die mir soviel gegeben haben.
Am stärksten in der Kathedrale beeindrucken mich die Menschen. Zu jeder Tageszeit habe ich in dem Gotteshaus Gläubige angetroffen, versunken in stiller Andacht. Während der Messe füllen Hunderte, vielleicht sogar Tausende die Kirche. Denn nach Santiago kommen ja nicht nur die paar Fußwanderer, sondern Wallfahrer aus ganz Europa mit Bussen und Autos. In die Mittelsäule des Portico de Gloria, die den Jakobus trägt, ist die Wurzel Jesse gemeißelt. Sie stellt die Genealogie von David und Salomon bis zu Maria dar. In dieser Säule nun ist eine Vertiefung zu sehen, die dem Abdruck einer Hand ähnelt. Seit alters her legen die Pilger ihre Hand an diese Stelle. Sie ist abgegriffen und glatt poliert durch die Berührung von Abermillionen. Geduldig und still warten die Wallfahrer in einer langen Reihe, bis sie den Abdruck berühren können. Jeder einzelne tritt heran. Voller Inbrunst drücken die Menschen ihre Hand gegen die »Säulenhand«.
Mich berührt der feierliche Ernst dieser Leute, aber mich erschüttert die Macht, die der Glauben auf die Vernunft ausübt. Von diesem Moment an ist mir klar - ich muß bis Finisterre gehen, bis ans »Ende der Welt«. Ich muß für mich ein Gegengewicht schaffen gegen diesen religiösen Wahn, gegen diese Vergötterung und Anbetung, gegen den Wunderglauben.
Tommaso hat erfahren, daß wir Pilger, die zu Fuß gegangen sind, im vornehmsten Hotel »Los Reyes de Católicos« drei Tage unentgeltlich beköstigt werden, eine Tradition, die seit Jahrhunderten besteht, als »Los Reyes de Católicos« noch eine Pilgerherberge war.
Aus Neugier gehen wir hin. Atze, Tommaso, Pavel und ich zeigen unsere Pilgerausweise und die Urkunde über unsere Pilgerschaft, die wir in der Kathedrale erhielten. Statt ins Restaurant werden wir in einen Raum neben der Küche geschickt. Er ist vom Fußboden bis zur Decke weiß gekachelt. Die einzigen Möbel sind schmale Holztische und Bänke. Ich stelle mir vor, daß dieser Raum das richtige Ambiente für einen Film abgeben würde, der in einem Irrenhaus oder in der medizinischen Pathologie spielt.
Wir essen aus Höflichkeit, aber auf die beiden noch ausstehenden Einladungen verzichten wir.
Die Straßen und Plätze sind voll mit Touristen, Gästen, Urlaubern, Wallfahrern und Pilgern. Santiago scheint ein immerdauerndes Fest zu feiern. Straßenmusiker spielen keltische Musik. Die Gaststätten, Restaurants und Bars bersten unter dem Andrang der Menschen. Wir vier Pilger, die wir uns unterwegs immer wieder begegnet sind, bleiben während unseres Aufenthaltes in Santiago zusammen. Wir treiben in dem Menschenstrom. Um auszuruhen, lassen wir uns in ein Café schwemmen. An unserem Tisch nimmt ein Pilger aus Salamanca Platz. Er ist ebenfalls zu Fuß gegangen und bereits seit einer Woche in Compostela. Wir fragen ihn nach Justin. Ja, er hat einen Franzosen, der so hieß, tatsächlich hier angetroffen. Nur von Gerda finden wir keine Spur.
Im Laufe des Gesprächs fragt mich der Pilger aus Salamanca, welcher Konfession ich angehöre. Ich antworte wahrheitsgemäß. Sehr konsterniert vergewissert er sich:
»Du bist kein Christ?«
»Nein.«
»Du glaubst nicht an Gott?«
»Nein.«
Er schaut mich fassungslos an. Dann faßt er sich und sagt: »Du lügst, denn wenn du nicht an Gott glauben würdest, dann hättest du nicht den Weg bis Santiago geschafft. Ich selbst war oft nahe daran aufzugeben. Und ich bin ein Mann! Du als Frau hättest die Strapazen nie aus eigener Kraft bewältigen können, denn nur mit göttlicher Hilfe und der des heiligen Jakobus konnte es dir gelingen, also mußt du doch an sie glauben, sonst war dir nicht geholfen worden.«
Sagt es und wendet sich brüsk von mir ab. Er unterhält sich fortan nur noch mit Pavel, Tommaso und Atze. Für ihn existiere ich nicht mehr.
Am späten Nachmittag spazieren wir über das große Geviert der »Plaza del Obradoiro«, setzen uns auf eine der Balustraden
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