Der Jakobsweg
Falle sei bereits zugeschnappt.
Hier drin in diesem Loch ist es schrecklich, aber wohin sollte ich sonst gehen? Ich weiß nicht, wo die anderen sind. Ich würde sie nie finden in diesem Häusermeer. Ich bin allein und ich fühle mich schlecht. Im Asyl bin ich wenigstens sicher und hier kann ich in Ruhe meine Enttäuschung ausbrüten, mich in Traurigkeit und Bitternis steigern. Und denken, das geschieht dir recht! Ganz umsonst bist du gelaufen! Nun schau, wie es dir ergeht. Oh, ich werde ein Höllengericht über mich halten. Ich sehe mich um, in diesem Loch. Das Bett ist der beste Platz. Ich krieche hinein und ziehe mir die Decke über den Kopf. Es klopft an der Tür. Sie öffnet sich - Atze! Wie ein blonder Engel steht er im Raum, eine Lichtgestalt! Ihn schickt der Himmel, mich zu befreien! Ich stoße einen freudigen Schrei aus und stürze in seine Arme.
»Hol mich hier raus! Bitte, ich will hier nicht bleiben!« Atze hatte sich in einem Hotel einquartiert, weil er hörte, daß es keine Extraunterkunft für Pilger gibt. Dann suchte er die anderen Pilger, nur zufällig erfuhr er von diesem Asyl und hat mich gefunden.
Es wird ein schöner Abend. Die schreckliche Gefangenschaft in dem Asyl wird zur Farce. Das Leben ist wieder real. Ich erzähle Atze von meinen Einbildungen, und wir lachen zusammen. Er freut sich, mein Retter zu sein.
Santiago ist auch bei Nacht eine betriebsame Stadt. Viele Menschen sind auf den Straßen. Holzstöße werden entzündet, das Feuer lodert. Wein wird ausgeschenkt, und Sardinen grillen auf dem Rost. Verwundert fragen wir die Einwohner, welches Fest gefeiert wird. Es sei Sonnwendfeier, erfahren wir. Wein lassen wir uns einschenken und kaufen gegrillte Sardinen. An jeder Straße, auf jedem Platz ein brennender Holzhaufen, Musik und fröhliche Menschen. In der Menge entdecke ich Tommaso. Wir umarmen uns. Nun sind wir schon drei Pilger. Atze und Tommaso hatten sich auch unterwegs kennengelernt.
Es ist eine Nacht zum Feiern. Die Feuerscheine, Musik, Wein, Essen, die Menschen - mir wird taumelig im Kopf. Sich vorzustellen, Atze wäre nicht als rettender Engel erschienen und ich würde jetzt im Obdachlosenheim sein! Wie absurd!
Wir treffen Pavel und ziehen zu viert weiter. Auch Sergio kreuzt unseren Weg, ein Mädchen hängt an seinem Arm, und so verabschiedet er sich auch bald wieder. Ich bin so glücklich in dieser Nacht, daß es mir nichts ausmacht.
Am nächsten Morgen schlafe ich länger als sonst, dann frühstücke ich zusammen mit Atze. Er war sofort nach seiner Ankunft in der Kathedrale gewesen. Sie sei überwältigend, und er müsse unbedingt noch einmal hineingehen. Wir schlendern durch Straßen, die mit breiten Steinplatten gepflastert sind. Dunkle, hohe Häuserfassaden und Arkadenbögen begrenzen die Straßen. Die Mauern der Gebäue sind wegen der hohen Luftfeuchtigkeit, so nahe am Atlantik, mit düsteren Flechten überzogen, dagegen setzen rosa Blumen, die zwischen den Fugen wachsen, fröhliche Akzente. Ein Platz öffnet sich, und vor uns steht die Kathedrale. Sie also war es, die das Denken und Hoffen der Pilger im Mittelalter während der langen, gefahrvollen Wanderung beherrschte. Waren sie dann endlich angekommen, war sie der Ort der Erfüllung. Gestern bei meiner Ankunft hatte ich nicht die Stimmung, jetzt erst nehme ich sie wirklich wahr. Sie ist mächtig, gewaltig! Ein Orgelwerk aus Stein. Alle Kunstrichtungen von Romanik bis Barock haben sich in ihr vereinigt und verewigt. Beachtung heischend türmt sich die Barockfassade auf. Unzählige Gesimse, Balustraden, Fenster, Säulen, Treppen, Skulpturen - immer höher wächst das steinerne Monument empor. Der Blick geht aufwärts, den Kopf weit im Nacken, dann erst endet das himmelstürmende Bauwerk in zwei Türmen, auf deren Spitzen je ein Kreuz steht.
Wir steigen die breite Treppe empor, öffnen die Tür und sehen ein zweites Portal, die alte romanische Eingangspforte, das »Portico de la Gloria«. Auf Säulen stehen lebensgroße Figuren. In der Mitte, auf einer üppig skulpturierten Einzelsäule, thront der heilige Jakobus. Nicht als Ritter auf dem Pferd, der dem christlichen Heer im Kampf gegen die Mauren voranstürmt, ist er dargestellt und auch nicht als mühselig beladener Pilger, sondern als hoheitsvolle Gestalt, als Herrscher, der hier an der Eingangspforte zum Heiligtum seine Gefolgschaft empfängt. Sein Antlitz drückt gütiges Verstehen aus, verständnisvolles Verzeihen und mildtätige Liebe.
Rechts und links neben
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