Der Jakobsweg
berichtet. Im Schlaf erschien ihm der Apostel Jakobus und zeigte auf die helle Spur der Milchstraße am Himmel.
»Die Sterne sollen dich zu meinem Grab leiten, benutze diesen Himmelspfad als Wegzeichen, er wird dich von Ost nach West bis zum fernen Galicien führen.«
Karl der Große ist nachweislich nie in Santiago de Compostela gewesen, doch der Traum vom Sternenweg wurde immer weiter erzählt und beflügelte die Phantasie der Menschen.
Ich erwache sehr früh. Die Sterne sind noch nicht verblaßt. Ich bleibe im Schlafsack und erlebe, wie es Tag wird. Unmerklich verlöschen die Sterne. Es wird langsam heller. Die Luft verändert sich. Es wird kühl, so als würde die Erde noch einmal kräftig ausatmen, bevor die Sonne wieder ins Tagesgeschehen tritt. Tau senkt sich herab. An der Spitze eines jeden Grashalmes kondensieren Tropfen. Ich schaue zu, wie aus einem feuchten Tupfer eine glänzende Perle wird. Und als die Sonne erscheint, beginnt die Wiese zu dampfen. Nebeldunst, von den Sonnenstrahlen vergoldet, webt einen Schleier über das Land.
Die Menschen sind bereits auf den Feldern. Sie arbeiten mit Hacken und Schaufeln. Ein Mann hat seine Ochsen vor den Pflug gespannt und zieht Furche um Furche durch das dunkle Erdreich.
Ab Amenal ist der Fußweg verschwunden. Eine Autoschnellstraße überrollt das Land. Die Strecke wird zur Pein. Eine Umgehung ist wegen des raumgreifenden Flughafengeländes nicht möglich. Der Verkehr ist dicht. Nicht genug, daß die Fahrzeuge lebensgefährlich rasen und dicht auffahren, ich die Abgase einatmen und den Lärm erdulden muß und von dem sonnenaufgeheizten Asphalt gebraten werde, belästigen mich noch dazu die Autofahrer. Alle Arten von Anmache passieren, von Hupen, Lichtaufblenden, obszönen Handbewegungen bis zum Zeigen der Genitalien. Hitze, Dreck und Lärm brauchen meinen Gleichmut auf. Ich kann den Ärger nicht auch noch schlucken und meine Wut verbergen. Von einer stillen Pilgerin verwandle ich mich in eine Hexe und wünsche mir den Blick der Medusa. Aber auch so muß ich einen furchterregenden Anblick bieten. Dabei bin ich mir bewußt, daß Aggression nur Gegenaggression heraufbeschwört. Aber ich kann nicht anders, als meinen Stock zu benützen, wenn Autofahrer anhalten und ihre Hose öffnen. Die Reaktion der Männer auf meinen Angriff ist gefährlich: Sie versuchen, mich zu überfahren! Ich kann mir mein Verhalten auch nur deshalb leisten, weil meine Gegner durch den nichtabreißenden Autostrom behindert sind. Ich wundere mich, warum ich mich wegen der Anmache so sehr aufrege, da ich doch weiß, daß meine Drohgebärden die Männer erst recht herausfordern. Wahrscheinlich benutze ich die Autofahrer gewissermaßen wie Blitzableiter, um eine in mir angestaute Wut loszuwerden. Die Wut ist so groß, daß sie eine andere Ursache haben muß als die dummen Männer und die lästige Straße. Ich ahne, daß ich über mich selbst wütend bin. Denn trotz besseren Wissens mache ich mir Hoffnungen, in Santiago eine Eingebung, eine Erleuchtung, eine Erfüllung zu erfahren. Mir ist klar, es sind Erwartungen und Wünsche, die nicht realisierbar sind. Deshalb schaffe ich mir mit den Autofahrern ein Feindbild, um mich abzulenken. An ihnen reagiere ich meine Enttäuschung ab. Ich stelle mir vor, wie die Pilger des Mittelalters nach Santiago kamen. Sie stimmen frohe Lieder an und voller Erwartung schritten sie ihrem Ziel entgegen. Eine gute Wanderstunde vor Santiago stiegen sie in einen damals noch kristallklaren Fluß, um nicht nur mit reiner Seele, sondern auch mit reinem Körper in der heiligen Stadt Einzug zu halten. Das Waschritual schien so wichtig zu sein, daß es im Codex Calixtinus, dem mittelalterlichen Pilgerführer des 12. Jahrhunderts, ausführlich beschrieben wird. Aus Liebe zu dem Apostel »apostoli amore« hätten die Pilger die Kleider abgelegt und den ganzen Körper gewaschen. Der Fluß existiert noch heute, wenn er auch nicht mehr kristallklar ist. Er trägt den Namen »Lavacolla«. Es ist eine bildhafte drastische Bezeichnung in bezug auf die Badezeremonie, denn »lavar« bedeutet waschen, und »cola« heißt Schwanz.
26 Santiago de Compostela
Der Raum gleicht einer Gefängniszelle. Die Einrichtung erschöpft sich mit Bett und Waschbecken. Kein Fenster. Ein elendes, stickiges Loch. Ich bin im Obdachlosenasyl gelandet. Ich fühle mich gefangen, obwohl ich nicht bleiben müßte. Als sei ich in eine Falle getappt, komme ich nicht mehr raus. Ich kann mich nicht
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