Der Jakobsweg
der Kirche.«
Ich nicke zustimmend und sage: »Wir können uns das wohl kaum noch vorstellen, wie unentrinnbar die Menschen von Schuldvorstellungen erdrückt wurden. Von Geburt an war der Mensch an die Kirche gebunden und mußte sich ihren Gesetzen und Vorschriften unterordnen. Er hatte gar keine Wahl. Austreten aus der Kirche, war unmöglich, er wäre als vogelfrei erklärt worden, jeder hätte ihn auf der Stelle töten können. Die Kirche kontrollierte alles, nichts entging ihrer Aufmerksamkeit, sie beeinflußte Kunst und Kultur, bestimmte das Zusammenleben der Menschen, die richtige Ausübung der Ehe, die Erziehung der Kinder, die Moralansichten, selbst, wie man zu sterben hatte, sie organisierte Kreuzzüge und Kriege.«
»Und schuf Heilige und Pilgerstätten«, ergänzt Tommaso.
»Ihr habt ja recht«, wirft Atze ein, »aber ich bin froh, daß Pavel bereits abgefahren ist. Er wäre sehr verletzt durch solche Reden.« »Dann hätten wir das auch nicht so gesagt. Du sagst auch nicht immer und jedem, was du denkst, oder?« entgegnet Tommaso.
Während unserer Spaziergänge durch die Altstadt blieb die Kathedrale stets Mittelpunkt. Wir mochten noch so verwinkelten Straßen folgen, am Ende gelangten wir doch immer wieder zu ihr, standen vor einem ihrer zahlreichen Portale. Am besten gefiel sie mir nachts. Dunkel und geheimnisvoll schimmerten dann ihre Steine im Mondlicht.
Ich verbrachte noch einen ganzen Tag in der Stadt. Pavel hatte sich gestern von uns verabschiedet. Für die Rückkehr nach Polen benutzt er den Zug. Tommaso und Atze fuhren heute wieder zurück. Das Gefühl der Freude über das Erlebte mischte sich mit der Melancholie des Abschiedes. Wir drei waren dem gleichen Weg gefolgt, hatten uns in Santiago wiedergetroffen, und dennoch war jeder seinen eigenen Weg gegangen. Wir trennten uns mit dem Wissen, daß unsere Lebenswege so weit auseinanderliegen, daß wir uns wohl nicht noch einmal begegnen werden.
Am letzten Abend wandere ich allein durch die Stadt. Es gibt noch genauso viele Menschen wie zuvor, aber ich nehme sie nicht recht wahr. In mir ist es ruhig und still geworden. Ich denke an alle Begegnungen auf dem Jakobsweg. Da war Pater Sampedro, der mir zu Beginn der Pilgerreise über die geschichtlichen Hintergründe viel zu erzählen wußte. Ich erinnere mich an die Padres, Priester und Mönche, die mich freundlich aufnahmen, wie die Mönche in San Millán de Yuso, mir Weisungen gaben wie der Pfarrer in Azofra, Legenden und Geschichten erzählten und mich Einblicke gewinnen ließen in mir zuvor fremde und unbekannte mönchische Lebensformen. Und dann die Menschen in den Dörfern: Die tatkräftige Wirtin Carmen in Lorca und ihr Sohn Jorge, der mir mit der Schilderung von den messerwetzenden Einwohnern Schrecken einjagen wollte. Die Bäuerinnen in Torres del Rio, die mir Brote an mein Nachtlager unter dem Kirchendach brachten und blaue Sandalen schenkten. Jesus aus Logroño, der mich zu Pfarrer Don Rafael führte. Die Einwohner von Villalcázar, sie luden Atze und mich zum Essen und Weintrinken in ihre Bodega ein, und dann die Prozession zur »Virgen del Río«, der Regengöttin. Die alten Menschen, die ausharren in ihren Gebirgsdörfern, die von den jungen Leuten verlassen worden sind. Ich erinnere mich an Antonia, die mich nachts in ihr Haus aufnahm, an die madonnenschöne María aus El Faba und an die alte Marina, die letzte von Foncebadón. Ich begegnete unterwegs Menschen, die auch nach Santiago pilgerten. Wir trafen uns und trennten uns wieder, jeder machte seine Erfahrungen, und hier am Ziel bewirkten vor allem Atze und Tommaso, daß die Apostelstadt doch noch zu einem Erlebnis für mich wurde. Und da waren die Zeugnisse der Vergangenheit, besonders die romanischen Bauwerke von Eunate, Puente la Reina, Estella, San Millán de Suso, Frómista, Sahagún, San Miguel de Escalada, Peñalba...
Und nicht zuletzt die Landschaft, die hier in Spanien vielerorts noch Lebensraum für Tiere und Pflanzen ist. Reich bin ich beschenkt worden. Viel habe ich erfahren und gelernt. Ich bin keine andere geworden, aber ich bin nun einverstandener mit mir, so wie ich bin.
Ich denke an die Zeit vor 1100 Jahren, als hier, wo später die große Stadt entstehen sollte, ein Hirte das überirdische Leuchten sah. Das Apostelgrab wurde gefunden. Das »Sternenfeld« wurde zu Compostela, der Stadt von Sant'Jago. Das Phänomen der Pilgerfahrten, einer der gewaltigsten Massenbewegungen des christlichen Europas, wurde durch das
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