Der Jakobsweg
langen Stab und einem faltenreichen, gerafften Gewand. In der Hand trägt er die Bibel. An seinem Hut befinden sich eine große und zwei kleinere Pilgermuscheln. Ein kunstvoll gelockter Bart fällt ihm auf die Brust. Das Gesicht ist geprägt von Askese und strahlt Ruhe und Überlegenheit aus.
»Die Holzplastik ist sehr wertvoll, sagt mein Vater. Sie wurde im 14. Jahrhundert geschaffen«, unterbricht Angel meine stille Betrachtung.
Draußen bedanke ich mich bei ihm, weil er sich auch noch bemüht hat, den Schlüssel zu besorgen, doch er will mich noch bis zur Brücke begleiten, sagt er.
Die calle mayor mündet in die Brücke ein. Sie überspannt den Rio Arga.
»El puente de la reina - die Brücke der Königin, nach dieser Brücke wurde die Stadt benannt«, sagt Angel. »Es heißt, die Brücke habe die Gemahlin von König Sancho Garces III. gestiftet. Sie hieß Doña Mayor. Mein Vater weiß genau, wann sie gelebt hat, so um 1000 war das, glaub ich. Aber Vater sagt, in Wirklichkeit sei die Brücke von ihrer Schwiegertochter der Doña Estefani gestiftet worden. Wer weiß, wie das gewesen ist, aber bezahlen mußte sie sicher Sancho!«
»Bezahlt haben sie in jedem Fall die Menschen, die damals hier lebten mit ihren Steuern und Abgaben und die haben sie auch gebaut«, sage ich.
»Na ja, wenn Sie das so sehen, haben Sie auch nicht unrecht.« Und dann nimmt er noch einmal Anlauf. »Vamos un poco al bosce - gehen wir noch etwas in den Wald?« fragt er mich mit bittenden Augen.
Diese Direktheit verblüfft und amüsiert mich gleichzeitig. Ich sage ihm, es habe mir Freude gemacht, ihn kennenzulernen und betone, nun müsse ich aber weiter nach Santiago. Er hört gar nicht auf meine Worte, schaut an mir vorbei und geht dann wortlos weg. Doch dann dreht er sich noch einmal um und ruft mir nach und ich höre an seiner Stimme wie enttäuscht und beleidigt er ist. »Una santa! Solamente una santa! - Eine Heilige! Doch nur eine Heilige!«
Bevor ich weiterwandere, betrachte ich die Brücke noch genauer - eine Bilderbuchbrücke! Mit sechs Bögen wölbt sie sich über den Fluß. Jeder einzelne Bogen ist so bemessen, daß er sich, zusammen mit der Spiegelung im Wasser, zu einem Kreis ergänzt. Die Baumeister im 11. Jahrhundert haben Fähigkeiten und Kenntnisse besessen, die meiner Meinung nach in späteren Jahrhunderten leider vergessen und verlorengegangen sind oder einfach ignoriert wurden. Dieses Bauwerk hält seit 900 Jahren allen Belastungen stand, sogar Autos rollten einige Jahrzehnte darüber - erst seit neuestem ist sie für Fahrzeuge gesperrt - und all die Jahrhunderte mußten nur unwesentliche Ausbesserungen vorgenommen werden. Im warmen Schein der Nachmittagssonne leuchten die Steine der alten Brücke honiggelb. Da erinnere ich mich an eine Legende: Manchmal, so erzählen sich die Leute, erscheint ein fremdartiger Vogel. Ohne sich von den Menschen und ihren betriebsamen Tätigkeiten einschüchtern zu lassen, fliegt er auf die Brücke und säubert mit seinem Schnabel die Steine. Er trägt sogar in seinem Gefieder Wasser vom Fluß herbei, das er auf dem Mauerwerk versprüht. Emsig putzt er das Gemäuer, bis es rein und glänzend ist. Dann wissen die Menschen, daß ihnen gute Jahre bevorstehen. Seit langem, so sagt man, ist der Vogel nicht mehr gesehen worden.
Inzwischen ist es Nachmittag und ich wandere weiter nach Westen. Die Sonne scheint mir jetzt warm ins Gesicht. Weit öffnet sich der Blick auf Getreidefelder, dazwischen Olivenbäume und Mandelbaumhaine. In flache Hügelketten eingebettet oder oben auf den Höhen liegen kleine Ortschaften.
Endlich eine Rast, denn gegessen habe ich den ganzen Tag kaum etwas - nur der eine Biß ins Weißbrot vor der Santiagokirche und ein Stück Käse, bevor Angel schlüsselschwingend angerannt kam. Weil ich allein wandere, bin ich nicht gezwungen, mich anderen anzupassen und kann meine Essenszeiten und Pausen frei bestimmen. Die Erde am Wegesrand ist sonnenwarm, der Wind streicht sanft über meine Haut. Silbern glänzt das Laub der Oliven, frisches Grün sprießt aus knorrigen Weinstöcken, die Erde dazwischen ist rotbraun. Eine Schafherde zieht grasend vorüber, begleitet von zwei Schäfern und ihren Hunden. Noch bevor ich mit dem Essen fertig bin, kommen die beiden Männer auf mich zu. Natürlich stellen sie wieder die Fragen nach dem Woher und Wohin und warum allein. Ein Schäfer schüttelt den Kopf und meint, er würde es nicht verstehen, der andere hingegen nickt bedächtig und
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