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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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bewahrt wohl für immer ihr Geheimnis. Sie ist voller Magie und Poesie. Ihre Proportionen ruhen im Gleichgewicht und strahlen für mich die vollkommene Harmonie aus.
    Der helle, gelbe Sandstein betont die elegante Leichtigkeit und friedvolle Heiterkeit, die von dem Bauwerk ausgeht. Ich gehe noch näher an die Kirche heran. Nun erst wird deutlich, wie klein sie eigentlich ist: Bis zum Dachrand schätze ich sie kaum mehr als acht Meter hoch und mit der Kuppel zusammen vielleicht fünfzehn Meter. Der Sandstein ist natürlich im Laufe der Jahrhunderte vom Wind zerfurcht und vom Regen ausgewaschen und zerbröckelt. Die vielen Vertiefungen nutzen wilde Bienen und Schlupfwespen, um Nester für ihre Brut anzulegen. Sie schwirren emsig um das verwitterte Gemäuer. Langschwänzige Mauereidechsen liegen auf den sonnenwarmen Steinen. Im Dachgestühl nisten wahrscheinlich Eulen.
    Eunate dient heute den Menschen nicht mehr als Kirche, aber ich bin überzeugt, sie ist zu einem Tempel der Natur geworden.
    Eine Stunde Rückweg zu meinem Pilgerweg liegt vor mir, aber den Umweg bereue ich in keiner Weise. Aus einiger Entfernung blicke ich noch einmal zurück. Da steht sie, Santa María de Eunate, einfach mitten im Feld, in ihrer Einsamkeit voller Poesie. Ich verspüre plötzlich eine Sehnsucht, ohne zu wissen, wonach. Noch lange Wanderstunden vermischen sich in mir Freude und Traurigkeit.
    Nach den vielen Bauerndörfern, an denen ich vorbeikam, ist Puente de la Reina wieder eine richtige Stadt. Sie hat sich aber manches aus früheren Jahrhunderten bewahrt. Gleich am Ortseingang gelange ich über buckeliges Kopfsteinpflaster, vorbei an dunklen Steinhäusern, zu einem niedrigen Gewölbebogen, der so gar nicht als Stadttor zu taugen scheint. Eng und dunkel ist er und vermittelt eher das Gefühl einer rituellen Einweihung, einer geheimnisvollen Initiation.
    Vorsichtig, auf etwas Ungewöhnliches gefaßt, bewege ich mich durch den Durchlaß. Auf der anderen Seite versperren links die hohen Mauern eines Klosters die Sicht, rechts fällt mein Blick auf ein romanisches Portal. Es ist bereits stark verwittert, doch noch immer wirkt es mit seinen plastischen Figuren und den gestaffelten Bögen sehr eindrucksvoll. Gitterartig sind die Säulen mit Ornamenten überzogen. Mehlschwalben umflattern wie große, schwarze Schmetterlinge das alte Portal. Sie haben ihre halbkugelförmigen Nester über dem Tympanon gemörtelt.
    »Este es la iglesia del crucifijo - das ist die Kreuzkirche« ertönt es laut hinter mir. Erschrocken zucke ich zusammen und drehe mich um. Hinter mir steht ein junger Mann: Schwarze Haare, schwarze Augen, ein zu einem breiten Grinsen verzogener Mund, die Hände in den Hosentaschen vergraben. »Quiere Usted visitar la iglesia - möchten Sie die Kirche besichtigen?« fragt er höflich, seine Augen aber mustern mich frech und herausfordernd. »Ich heiße Angel«, fügt er noch hinzu.
    »Si, esta abierta - ja, ist sie offen?« frage ich leicht verwirrt.
    »No, pero yo tengo la llave - nein, aber ich habe den Schlüssel«, und stolz zieht er einen großen Eisenschlüssel aus der Tiefe seiner Hosentaschen.
    »Vamos - gehen wir!« verfügt Angel und schließt die Portaltür auf.
    »Die Kirche wurde von den Tempelrittern gegründet«, erzählt er mit gedämpfter Stimme. »Die ganze Stadt gehörte ihnen. Sie waren einmal der mächtigste Orden, so mächtig, daß die anderen Angst bekamen, der Papst und die Könige, und deshalb eine Intrige anzettelten. Der Orden wurde verboten, seine Mitglieder verfolgt und viele verbrannt.« Als hätte er diesen Vortrag eingeübt, fährt er fort. »Dadurch verfiel auch diese Kirche. Erst 300 Jahre später, als sie schon eine Ruine war, wurde sie vom Johanniterorden wieder aufgebaut. Größer als vorher. Sehen Sie, hier gibt es jetzt zwei Kirchenschiffe, ursprünglich war nur eines vorhanden. Das Portal, das Sie vorhin bewunderten, stammt noch aus der Zeit der Tempelritter.«
    »Woher wissen Sie das alles?« frage ich und würde gern noch mehr über die Templer erfahren.
    »Nur so«, antwortet Angel lakonisch.
    Nun bin ich erst recht neugierig und möchte wissen, wer dieser Junge ist.
    »Sind Sie von Beruf Touristenführer?« versuche ich weiterzukommen.
    Er lacht verschämt. »Nein, ich gehe doch noch zur Schule, aber mein Vater führt oft die Fremden hier herum. Deshalb weiß ich einiges. Da, sehen Sie, das ist das Kruzifix, nach dem die Kirche benannt ist.«
    Das Kreuz hat die ungewöhnliche Form eines Y

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