Der Jakobsweg
behauptet, er verstehe das.
»Nein!« sagt der erste.
»Ja!« widerspricht der andere.
Eine Weile noch schauen beide schweigend auf die Erde. Dann wünschen sie mir Glück auf den Weg und stapfen mit schweren Schritten ihren Tieren hinterher.
Oben auf einem Hügel liegt Mañeru. An einigen Hängen prunken alte Adelswappen. Auf einer Bank vor der Kirche sehe ich drei Mädchen. Wie Püppchen sitzen sie brav und still und wagen sich in ihrer Festtagskleidung nicht zu rühren. Weiß, rosa und rot sind die Kleider und dazu passend die Schleifen im Haar. Ich setze mich zu ihnen, um sie kennenzulernen. Es sind drei Schwestern, die jüngste in Weiß ist acht Jahre, die mittlere zehn und die älteste im roten Kleid ist zwölf Jahre. Von ihnen erfahre ich, daß heute Sonntag ist, deswegen hätten sie auch ihre schönen Kleider an. Sie sind sehr stolz auf ihre Gewänder und verzichten deshalb auf Spiele, bei denen sie sich schmutzig machen könnten. Sie präsentieren sich selbst wie kostbare Ausstellungsstücke und üben so ihre Rolle ein, die sie später als erwachsene Frauen spielen wollen, mittels äußerem Schein aufzufallen, damit sich ein Mann für sie interessiert. Mich mustern sie mit verblüfftem Ausdruck in den Augen. Sie sehen staubige Wanderschuhe, windzerzauste Haare und meiner alten Hose und dem ausgebleichten Baumwollhemd haften die Spuren von bereits fünf Wandertagen an.
Tief steht die Sonne im Westen, als ich eine Stunde später nach Cirauqui gelange. Auch diese Ortschaft liegt auf einer Anhöhe. Weißgekalkte Häuser, ausladende Balkone, geschnitzte Dachsparren, Toreinfahrten mit Adelswappen, Treppen, Fenster und Türbögen - ein idyllischer Ort, der die Vergangenheit bewahrt. Auf Stühlen und Bänken sitzen die Menschen in der Abendsonne vor ihren Häusern.
Cirauqui ist gestaffelt gebaut, ganz oben erhebt sich die Kirche San Román. Sie sieht unbedeutend aus, doch dann biege ich um die Mauer und stehe vor dem Portal und atme tief durch! Jedesmal wieder wirken diese romanischen Portale auf mich wie Erscheinungen, immer denke ich, nun habe ich das Schönste von allen entdeckt, um dann später von einem noch eindrucksvolleren überrascht zu werden. Dieses hier ist ganz besonders. Es öffnet sich weit nach außen, dann aber neigen sich die Säulen und Bögen zur Mitte und wie mit magnetischer Kraft wird man zum Eingang gezogen. Nur die romanische Baukunst schafft diese Sogwirkung. Auffallend bei diesem Portal ist der zehnfach ausgelappte und gezackte islamische Türbogen, ein deutlicher Hinweis auf den starken arabischen Einfluß selbst noch im 12. Jahrhundert.
Hinter Cirauqui ist der Pilgerweg plötzlich mit Steinen gepflastert, die durch die Benutzung während der Jahrhunderte rund und glatt geschliffen sind. Hier verlief einst eine Römerstraße und nur dieser Abschnitt ist erhalten geblieben. An ihrem Ende eine fast ganz zerfallene alte Steinbrücke. Auch sie soll von den Römern gebaut worden sein. Dann setzt sich der Erdweg fort, vorbei an dem schon seit 300 Jahren aufgegebenen Ort Urbe. Nur noch Mauerreste sind zu sehen und ich stelle mir vor, was hier früher geschehen sein mag. Die Sonne ist inzwischen untergegangen. Wolken sind wieder aufgezogen, und die Luft riecht nach Regen. In der Ferne sehe ich die Häuser von Lorca und beschließe, dort nach einem Quartier zu fragen.
Die Wirtin hat ein großmütterliches, rundes Gesicht und viele graue Löckchen auf dem Kopf. Klein und lebhaft läuft sie in der Gaststube hin und her, scherzt mit den Gästen, schenkt Wein aus, brutzelt gleichzeitig etwas in der Küche, holt Nachschub aus dem Keller und versorgt die Tiere im Stall. Sie brät für mich ein Omelette und stellt ein Glas Rotwein auf den Tisch. »Nein, in Lorca gibt es kein Refugio«, antwortet sie. Doch ich könne im Nebenraum auf dem Fußboden schlafen. Schnell mustert sie meinen Rucksack und stellt fest, ich hätte ja anscheinend alles dabei zum Übernachten.
Die Gaststätte ist klein, warm, dunkel. Zwölf Männer hocken an den Tischen. Der Alkohol rötet allmählich ihre Gesichter. Plötzlich, wie auf ein geheimes Kommando, öffnen sie die Münder und singen. An ihren Hälsen schwellen die Adern. Jorge, der Sohn der Wirtin, setzt sich mit seinem Weinglas an meinen Tisch. Er deutet auf die Sänger, lacht und sagt: »Früher wären Sie als Pilgerin hier nicht so ungeschoren davongekommen!«
»Wieso?«
»Nun, deren Vorfahren waren recht wilde Gesellen. Sie warteten unten am Fluß mit scharf
Weitere Kostenlose Bücher