Der Jakobsweg
Schloßzimmer eine Suppe gekocht und dabei alles Trinkwasser aufgebraucht habe. Ich wollte zwar meine Wasserflasche wieder füllen, fand aber keinen Brunnen und sah auch keine Menschen, die ich um Wasser hätte bitten können. Und so früh am Morgen an einer Haustür klopfen, wollte ich auch nicht gerne.
Der Durst wird immer quälender. Früher einmal soll es einem Pilger ähnlich ergangen sein. In großer Hitze schleppte er sich den steilen Weg auf den Monte Perdón hinauf. Als er den Durst kaum noch ertragen konnte, erschien ihm der Teufel! Er versprach dem Durstigen köstliches, kristallklares, kühles Wasser. Er müsse dafür nur Gott, die Jungfrau Maria oder wenigstens den Apostel Sant' Yago, wie der heilige Jakob auf altspanisch heißt, verleugnen. Der Pilger widerstand dem Teufel trotz des quälenden Durstes und hielt treu an seinem Glauben fest. Sant' Yago ließ zur Belohnung auf dem Gipfel eine Quelle entspringen. Und siehe da - sie sprudelt heute noch und stillt auch meinen Durst. Vorsichtshalber fülle ich gleich beide Trinkwasserflaschen. Von dem 1037 Meter hohen Bergkegel kann ich die navarresische Landschaft gut überblicken. Mir gefällt, wie die Dörfer gleich Burgen auf den Höhen liegen. Die Felder sind von Büschen umrahmt und werden von kleinen Waldflecken immer wieder unterbrochen - eine harmonische von Menschen geschaffene Kulturlandschaft. Die Ortschaften Uterga, Muruzubal und Obanos liegen vor mir. Der Rucksack lastet schwer auf meinen Schultern. Ich spüre jetzt jedes Kilo mehr an Gewicht, besonders auch die zwei Liter, die ich vorhin glaubte, mitnehmen zu müssen.
Bei Obanos mündet der Pilgerweg, der über den Somportpaß die Pyrenäen querte, in den von mir gewählten Pfad, der über den Paß von Roncesvalles führte. Von hier an gibt es nur noch einen einzigen Weg nach Santiago. »Y desde aqui todos los caminos a Santiago se hacen uno solo - ab hier vereinigen sich alle Wege zu einem einzigen nach Santiago« steht auf einer Tafel am Wegesrand unterhalb eines modernen Denkmales von 1965. Diese bronzene Pilgerstatue sieht Don Quijote sehr ähnlich.
Ich biege ein in den Pilgerweg, der vom Somportpaß kommt, und folge ihm etwa vier Kilometer. Es ist ein Umweg, aber ich will Santa María de Eunate sehen. Sie ist zwar nur eine kleine Kirche, soll aber etwas ganz Besonderes sein. Pappeln säumen den Weg, und dann, nach etwa einer Stunde, sehe ich sie, Eunate! Das Bauwerk hat tatsächlich eine intensive Ausstrahlung. Vielleicht, weil es einsam ohne eine benachbarte Ortschaft zwischen Wiesen und Feldern liegt, oder ist es die ungewöhnliche Form, die ihren Zauber ausmacht? Santa María de Eunate ist in Form eines Achtecks gebaut und sieht daher fast kreisrund aus. Im Osten schließt sich ein zierlich gegliederter Chor an mit vier bogenförmigen schmalen Fenstern. An einer Seite erhebt sich ein niedriges Türmchen und auf der Kuppel sitzt ein dreieckiger Glockenturm mit zwei offenen Fensterbögen. In einem seiner Bögen hängt noch eine Glocke. Im Abstand von drei Metern wird die Kirche von einem arkadenartigen Bogengang umrandet. Nur die Bögen, welche jeweils auf eckigen Pfeilern oder schlanken Doppelsäulen ruhen, sind noch vorhanden. Vielleicht war die Arkadengalerie einmal überdacht und hatte früher die Funktion eines Kreuzganges? Wer hat diese Kirche gebaut und wann? Und warum gerade hier, in vollkommener Einsamkeit? Der romanische Baustil, die schmalen mit Alabaster gefaßten Fenster, die Bandrippen der achtseitigen Kuppel und die Kapitelle, auf denen Ornamente, Fabelwesen und Dämonenhäupter dargestellt sind, sprechen für eine Bauzeit im 12. Jahrhundert. Doch niemand weiß, wer auf die Idee kam, ausgerechnet hier, so weit entfernt von jeder Siedlung, eine Kirche bauen zu lassen.
Ich erinnere mich, schon einmal eine achteckige Kirche gesehen zu haben, bei Segovia, einer Ortschaft nördlich von Madrid. Für diesen Bau hatten Mitglieder des Templerordens den Auftrag erteilt. Vielleicht ist auch Eunate von den Tempelrittern erbaut worden? Bis zum 13. Jahrhundert spielten die Ritter des Templerordens eine wichtige Rolle beim Schutz und Ausbau des Pilgerweges. Sie bevorzugten Zahlensymbolik und das Oktogon hatte ihrer Meinung nach magische Bedeutung. Während der Kreuzzüge nach Jerusalem waren die Templer mit orientalischer Kultur und Wissenschaft in Berührung gekommen, diese Kenntnisse brachten sie nach Europa und nutzten sie bei der Konstruktion ihrer Bauwerke. Die kleine Kirche aber
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