Der Jakobsweg
und sieht aus, als ob es aus einer Astgabel geschnitzt wäre.
»Sie sind doch una Alemana, eine Deutsche, verdad - nicht wahr?« vermutet er wohl wegen meiner Aussprache. »Also es heißt, dieses Kreuz hätten Pilger aus Deutschland hierher in unsere Kirche gebracht, aber genau weiß man es nicht. Mein Vater sagt, es stamme aus der Zeit um 1400.«
Wir verlassen die Kirche. Ich möchte mich verabschieden. Angel schaut sehr frustriert drein.
»Was, Sie bleiben nicht noch etwas länger hier, eine Nacht wenigstens?«
Der enttäuschte Gesichtsausdruck und sein bittender Ton irritieren mich.
»Der Weg nach Santiago ist weit«, antworte ich lakonisch. »Heute bin ich erst einen halben Tag gegangen. Ich muß noch bis Sonnenuntergang weiterlaufen.«
Angel öffnet staunend den Mund. Er starrt mich ungläubig an. »Sie gehen zu Fuß nach Santiago?« bringt er schließlich heraus. »Sind Sie eine Heilige?«
»Nein!« Jetzt muß ich lachen. Und weil er so kindlich verdutzt aussieht, duze ich ihn unwillkürlich. »Wie kommst du denn darauf? Oft waren es sogar Menschen, die eine schwere Schuld oder ein Verbrechen begangen hatten, die sich als Büßer auf den Weg nach Santiago machten.«
An seinem Gesichtsausdruck sehe ich, welche Gedanken er in seinem Kopf wälzt: Was mag die getan haben? Es juckt mich sehr, seiner Phantasie Nahrung zu geben und ihm eine Gruselgeschichte zu erzählen. Nur mühsam beherrsche ich mich. »Über dich muß ich mich doch sehr wundern, Angel«, sage ich statt dessen. »Du wußtest so gut Bescheid über die Kirche, aber über die Pilger weißt du gar nichts?«
»Doch, doch«, widerspricht er eifrig. »Dort«, sagt er und zeigt auf den barocken Klosterbau aus dem 18. Jahrhundert, »befand sich eine Pilgerherberge. Im Mittelalter bekamen die Pilger hier Brot, sogar Milch und Wein und ein schönes, weiches Bett«, sein Gesicht hellt sich erwartungsvoll auf, »und sie blieben zwei Tage, um sich auszuruhen.«
»Ich gehe weiter, Angel!«
»Heute macht das doch niemand mehr zu Fuß. Die Touristen, die mein Vater führt, kommen mit dem Auto oder mit dem Bus. Warum gehen Sie zu Fuß?«
Um die Antwort möglichst knapp zu halten, sage ich: »Ich will ein Buch schreiben.«
»Oh, dann komme ich auch drin vor?« fragt er eitel.
»Ja, versprochen!«
»Dann gehe ich noch ein Stück mit Ihnen!«
Mir ist seine Begleitung ganz angenehm. Nicht nur, daß er mir etwas über die Geschichte seiner Stadt erzählen kann - er ist auch ein hübscher Junge.
Er führt mich eine schmale, kopfsteingepflasterte Straße entlang, die »calle mayor«, wie er sagt, mit braundunklen Häusern beidseits. Die Straße verläuft so schnurgerade in Ost-West-Richtung, daß ich den Eindruck habe, sie gab es schon, bevor die Ortschaft hier gebaut wurde. Angel bestätigt meine Vermutung: »Sie ist ein Teil des alten Pilgerweges.« Er zeigt auf ein wundervolles, tiefgestaffeltes, romanisches Portal. »Este es la iglesia de Santiago - die Santiagokirche.«
»Das ist das schönste Portal, das ich bis jetzt gesehen habe!« rufe ich begeistert aus. Es wirkt sehr ungewöhnlich, ja erinnert eher an archaische, heidnische Darstellungen mit den Menschenköpfen aus Stein, die als Kapitelle oben die Säulen abschließen. Im Tympanon sind Rundbögen ins Halbrund gesetzt, kleine Hufeisenbögen, wie sie in der arabischen Baukunst oft zu sehen sind. Allerdings ist die Verwitterung auch an diesem Portal schon weit fortgeschritten, und viele der kleinen Figuren auf den Kapitellen und Archivolten sind kaum noch zu erkennen.
Die Tür ist abgeschlossen. Diesmal vermag Angel keinen Schlüssel aus der Tasche zu zaubern.
»Ich möchte Ihnen gern die berühmte Santiago-Figur zeigen. Warten Sie einen Moment - solamente un momento!«
Ich mache mich auf eine längere Wartezeit gefaßt und will die Zeit nützen, um meinen Hunger zu stillen. Kaum habe ich Brot und Käse ausgepackt, kommt er wieder angerannt und schwingt lachend den Schlüssel. Das Innere ist viel reicher ausgestattet als die »Iglesia del Crucifijo«. Es gibt mehrere vergoldete Barockaltäre und einen Hochaltar mit einem szenenreichen Retabel, einem Altaraufsatz. Man merkt, daß die Kirche umgebaut und erweitert wurde, zuletzt im 18. Jahrhundert. Eigentlich stammt auch hier nur noch das Portal aus der Gründungszeit. Mir gefallen goldgeschmückte Kirchen nicht sonderlich. Doch die zwei Meter große, geschnitzte Figur des Apostels Jakobus ist sehenswert. Er ist als Pilger dargestellt mit einem
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