Der Jakobsweg
Idylle vorbei, der Pilgerweg mündete vor der Brücke über den Rio Ega in eine vielbefahrene Landstraße. Laster donnerten vorüber. Von der Brücke blickte ich auf den Rio Ega hinunter. Schmutzig wälzte er seine Wasser. Es roch faulig. Aus einem dicken Rohr floß offenbar ungeklärtes Abwasser in den Fluß. In einem Pilgerführer aus dem Mittelalter heißt es noch, daß das Wasser des Rio Ega kristallklar und sauber sei und unbedenklich von Mensch und Tier getrunken werden kann. Der Rio Ega fließt an der Stadt Estella vorbei, meiner nächsten Etappe. Estella, ein vielversprechender Name für eine Stadt. Wird das »E« am Wortanfang weggelassen, heißt es Stella, das bedeutet Stern. Bella, die Schöne, wurde Estella im Mittelalter genannt. Es soll eine blühende Metropole gewesen sein mit Kirchen und Palästen, lange Zeit die Residenzstadt der Könige von Navarra und wichtiges Handelszentrum mit regelmäßigen Wochenmärkten. Angetan von der märchenhaften Beschreibung erwartete ich, zumindest einen Abglanz des alten »Estella la Bella« vorzufinden. Doch durch die Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen lärmen Touristen mit ihren Ansprüchen: Sie suchen hier Zerstreuung und Unterhaltung, Restaurants und Hotels, Weinstuben und Bars. Die Stadt strengt sich an, diesen Wünschen gerecht zu werden, hat alte Viertel abgerissen, um wie in vielen anderen Städten einem falsch verstandenen Fortschritt den Weg zu bahnen. Ich sehnte mich, kaum hatte ich die Stadt betreten, sogleich wieder nach den Feldern und Wiesen der navarresischen Landschaft. In Spanien gehören Dorf und Stadt zwei verschiedenen Zeitepochen an. Auf dem Land ist die Vergangenheit noch lebendig.
Als gäbe es keine Entwicklung, leben dort die Menschen auf eine seit Jahrhunderten fast unveränderte Weise. Den Städten dagegen versucht man mit aller Gewalt eine moderne Maske überzustülpen. Wer da vom Bewahren des Alten spricht, wird nur belächelt. Wahrscheinlich ist es dieser Kontrast, der heute meine Stimmung so negativ beeinflußt: Einmal das einfache, bescheidene Leben in den Dörfern und dann wieder dieser Fortschrittswahn in den Städten. Spanien hat diese zwei Fenster, durch eines kann ich in die Vergangenheit blicken, die mir wesensverwandt ist, durch das andere sehe ich eine Neuzeit, die mich abstößt. Ich mußte mich deshalb zwingen, wenigstens einige Stunde in Estella durch die Straßen und Gassen zu gehen, Brücken zu überqueren und hohe Treppen zu steigen, denn ich wollte die romanischen Kirchen und Paläste sehen, die von der mittelalterlichen Residenzstadt noch übriggeblieben sind.
Jetzt sitze ich hier oben bei der Kirche San Miguel. Treppenkehre um Treppenkehre bin ich emporgestiegen mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken. Es hat sich gelohnt! Ich blicke hinab auf eine Szenerie von Dächern, Dachfirsten, Türmen und Kaminen. Keine Straßen, keine Fahrzeuge, keine Menschen sind zu sehen. Sorgfältig vermeide ich, die breite Umgehungsstraße direkt unter mir in den Blickwinkel zu bekommen. Mauersegler schießen pfeilgeschwind, spitze, helle Schreie ausstoßend, über die Dächer.
Die Kirche San Miguel beeindruckt mich zuerst gar nicht so sehr. Weder außen noch im gotischen Innenraum kann ich etwas entdecken, das mich anrührt, bis ich vor dem Nordportal stehe. Sofort möchte ich meinen Ausruf zurücknehmen, den ich in Puenta la Reina machte. Dieses ist nun wirklich das Portal der Portale! Schauen, schauen, schauen - es ist wie das Aufblättern eines phantastischen Bilderbuches. Figuren, Fabelwesen, Ornamente - diese Fülle an kleinen Szenen auf den Kapitellen und Archivolten. Auf beiden Seiten des Portals stehen große Apostelfiguren, lang und schlank in ihren herabwallenden Gewändern. Als plastisches Relief der Erzengel Michael - er kämpft seinen großen Kampf mit dem Drachen - und daneben auf einem zweiten Relief die drei Frauen am Grab Jesu, denen zwei Engel die leere Gruft zeigen. Der Künstler hat den drei Gestalten so viel lebendige Bewegtheit zu geben verstanden, daß sich in ihren Gesichtern und Haltungen eine ganze Gefühlsskala von Trauer, Erschrecken, Hoffnung und Freude widerspiegelt. Um das Jahr 1185 wurde dieses Bilderportal geschaffen. Lange stehe ich davor, entdecke in der Überfülle des Dargestellten immer noch Neues. Mir kommt der Gedanke: War ein Künstler im abergläubischen Mittelalter nicht gefährdet, wenn er die Fähigkeit besaß, aus Steinen »lebendige« Figuren zu schaffen? Lag es nicht nahe, ihn der
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