Der Jakobsweg
geschliffenen Messern auf unerfahrene Pilger.«
»War Lorca denn ein Räubernest?«
»Ach wo, so schlimm waren wir nicht.« Jorge lacht wieder. »Nein, die Leute hier haben nur vom giftigen Wasser des Flusses profitiert.«
»Wie denn das?« frage ich verständnislos.
»Viele Pilger waren beritten und wenn die Pferde vom Wasser des Rio Salado tranken, krepierten sie bald. Darauf haben die Einheimischen nur gewartet. Im Nu waren sie zur Stelle, weideten die Kadaver aus und verteilten das Fleisch unter sich.«
»Na, dieses Fleisch hätte ich nicht essen wollen.«
»Wenn Sie Hunger gehabt hätten wie die Menschen, die damals hier lebten, hätten Sie es auch nicht so genau genommen. Das Fleisch war ja in Ordnung, die Pferde sind nur wegen der Salze im Flußwasser gestorben«, behauptet Jorge und erzählt weiter: »Allmählich sprach es sich natürlich unter den Pilgern herum. Sie warnten sich gegenseitig vor unserem Fluß. Da machten es sich die Frauen und Mädchen mit ihrem Strickzeug am Ufer bequem und sagten den Vorüberkommenden, dies sei noch gar nicht der Rio Salado, während die Männer in den Büschen mit gewetzten Messern warteten.«
Nun gönnt sich auch die Wirtin eine Ruhepause und nimmt auf dem dritten Stuhl an unserem Tische Platz. Sie heißt Carmen und freut sich, als ich ihr sage, ich hieße ebenso. Sie möchte gern wissen, wie dieser Name in meiner Sprache ausgesprochen wird, und ist etwas enttäuscht, daß es in Deutsch keine andere Aussprache dafür gibt. Sie fragt nach meinen Eltern und Geschwistern, fragt, ob ich verheiratet sei und wieviel Kinder ich habe.
»Hijita - Töchterchen«, so nennt sie mich, »da mußt du dich aber beeilen, ohne Kinder ist das Leben rein gar nichts wert.«
Sie selbst hat zwei verheiratete Töchter, die in Pamplona leben. Ihr Sohn Jorge, der Jüngste, dem sie zärtlich die Wange tätschelt, habe noch keine eigene Familie gegründet. »Jorge hat eine novia , eine Verlobte«, plaudert sie aus. »Es ist ein gutes Mädchen. Sie ist von hier, aus Lorca«, betont sie. »Jorge erbt mal die Gaststätte. Das ist wichtig, denn ein paar Leute müssen ja auch hierbleiben. Wo soll das hinführen, wenn alle in die Stadt abwandern?«
7 Von Lorca bis Torres del Rio
Den sechsten Tag bin ich nun schon zu Fuß unterwegs. Ungefähr 110 Kilometer habe ich zurückgelegt, das sind im Durchschnitt knapp 20 Kilometer am Tag. Etwa die achtfache Strecke liegt noch vor mir. Ich könnte größere Etappen bewältigen, es war mir jedoch wichtiger, für die Begegnungen mit den Menschen Zeit zu haben und für all das, was es am Weg zu sehen, zu hören, zu fühlen und zu denken gab. Aber die enthusiastische Stimmung, die mich bisher beflügelt hatte, ist verschwunden. Immer laufen. Es scheint endlos. Wozu? Die Füße tun weh. Der Rucksack hängt unerträglich schwer auf dem Rücken, drückt auf die Schultern und die Hüftknochen. Die Unbequemlichkeiten: das Schlafen auf hartem Boden, selten die Möglichkeit, sich am Abend oder Morgen zu waschen, und wenn, dann nur mit kaltem Wasser, die eintönige Ernährung, meist nur Brot, Käse, Tomaten, Zwiebeln, mal eine Suppe oder eine Büchse Fisch. Das alles stört mich ja eigentlich nicht, aber wozu nehme ich es auf mich? Es ergibt keinen Sinn - Santiago? Was will ich dort? Das ist doch kein Ziel für mich! Statt mich Kilometer um Kilometer vorwärts zu mühen, sollte ich lieber etwas Sinnvolleres tun. Ich habe keine Lust mehr.
Dabei hatte der Tag gut begonnen. Carmen, die warmherzige Wirtin, stellte mir gleich frühmorgens, als ich in die Küche kam, heißen Milchkaffee und Obst und Kekse auf den Tisch. In froher Stimmung begann ich meine Wanderung. Es hatte in der Nacht geregnet, und nun dampften aus dem feuchten Boden weiße Nebelschwaden. Die Sonne schien bläßlich durch den Dunstvorhang.
Lerchen stiegen empor und waren bald unsichtbar im Nebel, nur ihre jubilierenden Töne schallten herunter. Die roten Tupfen des Mohns waren behängen mit perlenden Tautropfen und leuchteten in den reifenden Kornfeldern. Die Luft war weich und samtig. Ich hatte das Gefühl, als sei die Erde gerade neu erschaffen worden. So friedlich, so rein, so schön. Menschen der umliegenden Dörfer begegneten mir. Geschultert trugen sie Hacken und Schaufeln. Sie gingen zu tiefgefurchten Feldern, um Spargel zu stechen. Bachstelzen, schwarzweiß, umflatterten die arbeitenden Menschen und pickten auf der rotbraunen Erde nach Würmern und Insektenlarven.
Doch bald war diese
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