Der Jakobsweg
wir streiten uns. Ich kann nicht verstehen, daß er sich für diese boshaften Menschen aufopfern will. Niemand von denen verdient meiner Ansicht nach seine Hilfe. Ich kann auch nicht einsehen, warum er stundenlang betet. Wenn mir Aemilian von seinem Gott erzählt, der wie ein Vater sei, blickt er so schwärmerisch, daß ich ihn rütteln und schütteln muß, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Ich mißtraue diesem Gott, wie ich allem mißtraue, was ich nicht selbst entscheiden und tun kann. Ich will niemandem das Recht zugestehen, über mein Leben zu verfügen.
Ich frage meinen schwarzgelockten Freund ein letztes Mal, ob er nun mitkäme, aber er hat nur noch seinen Glauben im Sinn und betet unentwegt. Da verlasse ich ihn und gehe allein fort.
Aber ich kann nicht mehr froh sein. Traurig irre ich umher. Gerade, als ich angestrengt überlege, ob ich zu Aemilian zurückgehen soll oder wie ich meine Geschichte zu einem glücklichen Ende bringen könne, höre ich Autolärm. Tatsächlich, zwei Autos! Noch mal Gas geben, Bremsen quietschen, Türen schlagen. Ich finde mich kaum zurecht. Zwar hatte ich die Straße gesehen, aber nicht vermutet, daß sie auch wirklich benutzt wird. Die Leute, die aus den Fahrzeugen steigen, lärmen mit lauten Stimmen, verbreiten Hektik und zerstören damit den Zauber des Ortes. Beim Klicken der Verschlüsse ihrer Fotoapparate springe ich auf, um die Flucht zu ergreifen. Sie entdecken mich noch, wie ich aus dem Heiligtum entweiche und den Berghang hinauf flüchte. Ich sehe noch ihre offenen Münder und höre einen stottern: »Was, was war denn das?«
Ich finde eine Quelle, die ringsum mit Blumen eingewachsen ist. In der Felswand hängen Farne und Moose. Das hätte der romantische Ort sein können, an dem ich als Dorfmädchen Aemilian das erste Mal begegnet bin. Ich steige die Berge hinauf. Der San Lorenzo lockt mich. Er ist so hoch, daß er noch jetzt, im Mai, mit Schneefeldern bedeckt ist. Als ich über die Baumgrenze gelange, erkenne ich aber, daß es bis zum San Lorenzo noch mehrere Täler und Höhen zu überwinden gilt, sicherlich eine Dreitageswanderung. Auf meinem Pilgerweg bin ich erst ungefähr 200 Kilometer vorangekommen. Die Abzweigung nach San Millán zählt schon 50 Kilometer mehr, da will ich nicht noch eine unwegsame Bergtour anschließen. Aber so ohne Ziel habe ich keine Lust, durch die Gegend zu stapfen, also suche ich mir auf einer Almhöhe einen Platz mit gutem Überblick, um einen Tag auszuruhen. Ringsum kahle Berge, die Täler mit dichten Wäldern gefüllt. Die Almwiese ist mit kurzstieligen Trockengräsern bewachsen, zwischen denen Blumen leuchten, von Wildbienen, Schmetterlingen, Schwebfliegen und Goldwespen umschwirrt. Und Grillen zirpen ihre Lieder. Abgelenkt von der Vielfalt der Natur, gelingt es mir nicht, weitere Aemilian-Geschichten auszudenken. Es ist zehn Uhr abends, als die Sonne glühend hinter den Bergen versinkt und orangerote Farben über den Himmel fließen. Jetzt weht ein kalter Wind über die Bergkuppe, und die Temperatur kühlt ohne Sonnenstrahlung rasch ab. Ich will ins Waldkloster absteigen und dort übernachten. Erst als es schon Nacht ist, erreiche ich wieder das Kloster Suso. In der Dunkelheit wirkt das alte Gebäude noch geheimnisvoller als am Tage. Im Innenraum riecht es dumpf und modrig. Der Schein meiner Taschenlampe fällt auf die Schädel und Gebeine, die in den Höhlungen der hinteren Lehmwand liegen. Vielleicht sind es die Knochen von Pilgern, die hier oben gestorben sind? Ich hatte sie bereits am Morgen gesehen und auch jetzt im Dunkeln fürchte ich mich nicht. Dennoch wähle ich draußen den Vorbau als Schlafplatz, dort ist die Luft besser. Auch hier bin ich von Toten umgeben. Aneinandergereiht stehen links und rechts Särge. Ich rolle Matte und Schlafsack zwischen diesen Steinsärgen aus. In sieben dieser Sarkophage sollen die Infanten von Lara ruhen, über deren Schicksal ich eine dramatische Geschichte gelesen habe. Sie spielt im 10. Jahrhundert, etwa zur gleichen Zeit, als dieses Heiligtum eingeweiht wurde. Das Geschlecht der Lara war eines der vornehmsten der Gegend. Die sieben Brüder nahmen an der Hochzeit ihres Onkels Ruy Velasquez teil. Jedoch die Braut, Doña Lambra, konnte ihre zukünftigen Neffen nicht ausstehen. Sie stiftete deshalb ihre Spaßmacher an, die Laras zu beleidigen. Um seine Ehre wiederherzustellen, zog einer der Infanten sein Schwert und tötete den Lakai, der sich zu Füßen der Doña Lambra geflüchtet hatte.
Weitere Kostenlose Bücher