Der Jakobsweg
ähnlich wie auf diesem Pilgerweg, nehme Strukturen der Landschaften in mich auf, beobachte Tiere und Menschen, freue mich an Blumen und Bäumen, bewundere Kirchen, Brücken und Klöster, fühle Wind und Sonne auf meiner Haut, höre den Vögeln und dem Wasser zu und rieche den Duft der Erde. Aber ich selbst bin gar nicht richtig da. Die Umwelt dringt zwar durch meine Sinnesorgane in mich ein, aber ich selbst, wer bin ich? Ich habe das Gefühl, uralt zu sein und alles schon erlebt zu haben, aber dennoch immer von neuem dieselben Qualen erleiden zu müssen, immer weiter, ohne Ruh wie Ahasver. Als ob ein Kindheitserlebnis mein ganzes Leben bestimmen würde. Die Erinnerung ist so frisch und deutlich, als wäre ich damals nicht erst drei Jahre alt gewesen. Vielleicht ist das Bild deshalb so klar, weil ich zum ersten Mal die Umwelt bewußt wahrnahm. Ich sah eine Landschaft, ähnlich wie ich sie jetzt auf dem Pilgerweg erlebe. Ich spürte den warmen Sommerwind. Auch an den Geruch erinnere ich mich genau, es roch wie hier zwischen den spanischen Feldern. Mein Vater hatte mich auf einen Spaziergang mitgenommen. Emporgehoben auf seinen Schultern und von seinen Schritten gewiegt, wurde ich plötzlich meiner selbst bewußt. So, als sei ein Vorhang vor mir weggezogen worden. Zuerst sah ich die helle Sonne, die alles überstrahlte. Der Himmel war blau und weit. Dann erblickte ich den grünbewachsenen Feldweg und die wogenden Kornfelder, Mohn und blaue Kornblumen zwischen den Ähren. Und dort, wo Erde und Himmel zusammenstießen, dorthin wollte ich gehen, in diese Ferne! Ich wußte plötzlich, daß ich lebte, um immerzu durch die Welt zu wandern, fernen Horizonten entgegen. Mein erstes Gefühl war zunächst Freude, hellauf jauchzende Freude - ich war bereit! Sofort! Gleich! Aber ich mußte erst erwachsen werden. Später, als ich älter wurde, kamen allmählich die Fragen: Warum, wozu, weshalb sollte ich durch die Welt ziehen? In mir selbst fand ich Antworten: Ich wollte Zeuge sein, Beobachter, alles sehen, hören, fühlen, schmecken und in mich aufnehmen. Ich bereitete mich intensiv vor.
Übte mich schon als Kind, bewußt wahrzunehmen und meine Beobachtungen aufzuschreiben und ich trainierte meinen Körper für die zu erwartenden Entbehrungen. Ich hütete mich vor allzu engen Bindungen, um niemanden im Stich lassen zu müssen. Als ich dann losgehen wollte, waren die Grenzen meiner Heimat inzwischen geschlossen. Ich studierte Biologie, mit der festen Überzeugung, als Wissenschaftlerin Sibirien und die Mongolei erforschen zu können. Ich hätte wissen müssen, daß ich niemals die Möglichkeit dazu erhalten würde. Manchmal wünschte ich, diese Sehnsucht nach der Ferne möge verschwinden.
Das Biologiestudium war beendet und meine Träume waren scheinbar nicht zu verwirklichen. Aber ich konnte sie nicht aufgeben und ein normales Leben wählen. Mit einem Neoprenanzug gegen die Kälte geschützt, schwamm ich 36 Stunden durch die Ostsee, um aus meinem Land zu flüchten, das für mich keinen Horizont mehr hatte, sondern nur noch Grenzen. Endlich in Westdeutschland angekommen, sollte sich nun erfüllen, wovon ich seit meinem dritten Lebensjahr geträumt hatte! Jetzt wollte ich losgehen! Aber wohin? Alle Himmelsrichtungen waren nun für mich offen. Das war wie ein Schock und ich war unfähig, mich von der Stelle zu rühren. Ich brauchte Zeit, um mich neu zu orientieren, und bewarb mich an einem Forschungsinstitut. Keine feste Anstellung, nein, dazu war ich nicht bereit, aber ein auf drei Jahre begrenztes Promotionsstudium. Das bedeutete natürlich zunächst wieder einen Aufschub. Danach sollte es aber losgehen. Aber die Jahre vergingen, während ich mich mit vielen Dingen beschäftigte, Völkerkunde studierte, um noch besser auf meine Aufgabe vorbereitet zu sein und auch einige Reisen unternahm. Aber zu der großen Fahrt, die ich mir als Kind fest als Lebensaufgabe vorgenommen hatte, brach ich nicht auf. Damals hatte ich mir eine Expedition in unbekannte Gebiete vorgestellt, ich wollte Pflanzen und Tiere entdecken, die noch nie zuvor ein Mensch gesehen hatte, und fremde Völker aufsuchen, bei ihnen wohnen und ihre Lebensweisen kennenlernen. Doch auf der Erde gibt es keinen Ort mehr, der noch unentdeckt ist.
Ich bin schon weit von San Millán de Suso entfernt. Wenn ich mich umschaue, sehe ich im klaren Morgenlicht die blauen Berge in den Himmel ragen. Vor mir erstrecken sich Felder, gemustert mit grünen Wiesenflecken. Kein Autolärm
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