Der Jakobsweg
stört. Ein Bauer zockelt mit einem Pferdefuhrwerk das Sträßchen entlang. Laut schmettert er ein Lied in den frischen Morgen. Stunden später steht die Sonne im Zenit. Sie brennt herunter und verströmt ihre Hitze bis zum Abend. Müdigkeit und Erschöpfung werden mir kaum bewußt, und ich beende die Etappe erst, als ich Santo Domingo de la Calzada erreiche. In Santo Domingo ändert sich abrupt meine Situation. Da sind sie, die anderen! Es wird mir erst jetzt bewußt, wie allein ich bisher war. Zwar gab es die interessanten Gespräche mit den Pfarrern und Mönchen und die Begegnungen mit Dorfbewohnern, aber gegenseitiger Austausch war nicht möglich. Und die Gesprächspartner mußten zurückbleiben, während ich weiterging. So war ich ein einsamer Wanderer, der eine verrückte Idee verwirklichte. Plötzlich sind sie da, die anderen Pilger: Da ist Atze, ein Holländer, Justin, ein Franzose und Gerda aus Deutschland. Später kommen noch Tomas, ein Italiener, der Pole Pavel und der Spanier Sergio dazu.
Mein Rucksack und die Wanderschuhe kennzeichnen mich in Pedros Augen als Pilgerin. Pedro ist der Herbergsvater. Gestikulierend stürzt er hinter mir her, als ich einen Weg einschlage, der aus Santo Domingo hinausführt, um unter freiem Himmel ein Nachtlager zu finden. Er meint, das ginge auf gar keinen Fall! Er sei ein Pilgervater, und da hätte ich auf ihn zu hören. In Santo Domingo gibt es die amigos del camino, einen Verein, der die historischen Traditionen wieder aufleben läßt. Um das Pilgern zu fördern, stellen die amigos unentgeltlich in einem historischen Gebäude la casa de peregrinos eine komfortable Unterkunft zur Verfügung mit mehreren Zimmern, Küche, Aufenthalts- und Waschräumen. Und Pedro macht es sich zur Aufgabe, jeden Pilger auch tatsächlich in die Herberge zu lotsen. Justin und Gerda sind bereits da. Dann stürmt Atze herein. Ich sehe zuerst nur seine langen Beine, und da der Holländer kurze Hosen trägt, kann ich muskulöse Waden bewundern. Der hat es gut, denke ich neidisch, denn mühelos rennt er mit diesen langen Beinen bis Santiago.
»Von woher kommst du heute?« frage ich.
»Logroño.«
»Was?« Mir bleibt der Mund offen. Logroño ist 50 Kilometer entfernt! Das ist eine Leistung!
»Ach«, erwiderte er, »ich habe schlimme Probleme beim Laufen. In Logroño mußte ich einen Arzt konsultieren und habe zehn Tage lang die Füße gesalbt, massiert und mit Binden umwickelt. Schließlich kaufte ich ein gebrauchtes Fahrrad. Aber diese 50 Kilometer mit dem Fahrrad waren noch schlimmer. Mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken konnte ich kaum das Gleichgewicht halten. Statt auf dem Fußweg mußte ich auf der Straße fahren. Eine Qual, sage ich euch! Ständig die Lastwagen, fast haben sie mich überfahren.«
Der zweiundzwanzigjährige Junge mit der hellblonden Igelbürste macht einen sehr verzweifelten Eindruck.
»Ich glaube, ich muß aufgeben.«
Justin klopft ihm auf die Schulter. »Nur Mut, das schaffen wir schon. Du schenkst dein Fahrrad den amigos, und wir gehen zusammen zu Fuß.«
Justin ist ein kleiner, dunkler Franzose mit kurzen Beinen und rundem Bauch. Er wird in vier Monaten 60 Jahre alt. Wir sprechen spanisch miteinander.
Durch die Unterhaltung mit den anderen wird mir deutlich, daß der Pilgerweg die Grenzen zwischen den Menschen aufhebt. Nation, Alter, Religion, Herkunft, Ausbildung, Beruf werden unwichtig. Doch obwohl wir alle das gleiche Ziel haben, folgt jeder seinem eigenen Weg.
»Es ist Zeit. Laßt uns zur Messe in die Kathedrale gehen«, sagt Justin.
Von weitem sehen wir den 70 Meter hohen Glockenturm. Der Kirchenraum hat hallenartige Ausmaße, es sind drei Schiffe, von mächtigen Pfeilerbündeln abgestützt und von Netzgewölben überspannt.
»Seht die Hühner dort.« Justin zeigt auf einen Käfig, in dem sich tatsächlich ein weißer Hahn und eine Henne befinden. Seltsam, Hühnerhaltung in einer Kirche?
»Sie sind hier wegen des Hühnerwunders. Kennt ihr diese Legende?« fragt Justin und erzählt sie uns gleich: »Ein Ehepaar aus Deutschland wallfahrte mit seinem achtzehnjährigen Sohn Hugonell nach Santiago. In der Herberge von Santo Domingo verliebte sich die Wirtstochter in den hübschen Jungen. Warum auch immer, der junge Deutsche ließ sich nicht verführen. Das Mädchen war sehr gekränkt und ihre Liebe verwandelte sich in Haß. Sie versteckte einen Silberbecher im Gepäck des Jünglings. Der »Diebstahl« wurde entdeckt und der Richter sprach das Urteil: Tod
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