Der Jakobsweg
der Morgenluft und die höchste Erhebung, der San Lorenzo, ragt in das Himmelsblau. Alljährlich, zum Tag des heiligen Lorenzo, wird auf dem Gipfel eine Messe gefeiert, hatte mir Nikolas erzählt.
Später bei der Verabschiedung sagt der Prior, vor mir seien noch nie Gäste in ihrem Kloster beherbergt worden. Wenn schon mal jemand komme, um das Kloster zu besichtigen, dann sind es nur Touristen, die mit dem Auto anreisen und danach gleich wieder wegfahren.
Auch nach Suso gibt es eine Fahrstraße, aber ich finde einen Wanderpfad. Eingesponnen in Waldeseinsamkeit liegt am Berghang das kleine Kloster. Es ist wirklich sehr klein und erinnert mit seinen drei übereinandergestaffelten Dächern entfernt an eine Pagode. Auf einer ist eine Vorhalle mit einer Arkadenreihe angebaut. An den Wänden stehen Steinsarkophage. Durch ein Portal mit arabischen Hufeisenbogen betrete ich das kleine Kloster. Innen ein einziger Raum mit Säulenreihen, wieder mit Hufeisenbögen untereinander verbunden, die nach oben zwei Tonnengewölbe abstützen. Der Boden ist mit Steinfliesen ausgelegt. Wände und Decke sind unverputzt, der warme Ton der gelben Steinquader macht einen anheimelnden Eindruck. Gegensätzliches hat sich zu einer Einheit verbunden. Der Raum, obwohl er klein ist, wirkt derb, kantig und wuchtig und doch gleichzeitig auch leicht, beschwingt und graziös. Zwei sich ausschließende Elemente sind miteinander verschmolzen: Das kriegerische Rittertum der westgotischen Christen und die elitäre, hochstilisierte Kultur der Araber.
Dort, wo sich das Gebäude an den Fels anlehnt, führen drei Aushöhlungen tiefer in den Berg hinein. In einer Höhlung befindet sich das ehemalige Grab San Milláns, dessen Gebeine die Mönche mitgenommen haben, als sie 1053 nach Yuso umzogen. Im Dämmerdunkel erkenne ich einen Steinsarg, den eine schwere Platte abschließt. Unter ihr ducken sich vier muskulöse, gnomenhafte Männer, als würden sie die Platte tragen. Obenauf liegt der Heilige als Skulptur, die ihn als ernsthaften, bärtigen Mann zeigt und mich glauben läßt, er könnte auch wirklich so ausgesehen haben. Allerdings weiß ich, daß dieses Grabmal erst 600 Jahre nach dem Tod Milláns geschaffen wurde. Auftraggeber waren die Mönche von Yuso, die die Knochen des Heiligen von hier zum neuen großen Kloster im Tal mitgenommen hatten und vielleicht versuchten sie, mit diesem kostbaren Grabmal den Geist des Toten zu versöhnen. In dieser Höhle soll Millán viele Jahre seines Lebens zugebracht haben. Erst nach seinem Tod errichteten seine Anhänger ein kleines Heiligtum. Diese westgotische Kapelle wurde beim Einfall der Araber erstmals zerstört. Den Wiederaufbau beweist die Einweihungsurkunde aus dem Jahre 984. Doch bereits im Jahr 1001 soll der arabische Feldherr Almansor das Kloster erneut verwüstet haben. Im 11. Jahrhundert wurde es wieder aufgebaut, und nun sind die arabischen Einflüsse im Baustil unverkennbar. Dieser Zusammenklang arabischer und frühromanischer Elemente wird als mozarabischer Stil bezeichnet. Nur noch drei weitere mozarabische Bauwerke sind auf dem Pilgerwege erhalten geblieben: San Miguel de Escalada in der Nähe von León, Santo Tomás de las Ollas und Santiago de Peñalba bei Ponferrada. Auf irgendeine Weise hatte der Pfarrer von Azofra recht, mich berühren diese frühesten Bauwerke des Christentums seltsam und geheimnisvoll. Vielleicht, weil sie so sehr im Dunkel der Vergangenheit liegen, sind diese Bauwerke für mich wie Gefäße der Phantasie, in denen Sagen und Mythen ihre unsichtbaren Schwingungen aussenden.
Es ist noch früh am Morgen. Mir steht aber nicht der Sinn danach, weiterzuwandern. Ich möchte einen Tag lang hierbleiben, die Stimmung in mich aufnehmen, die Stille. Nachdenken, träumen, phantasieren. Mir vorstellen, wie San Millán lebte, was er dachte, was er fühlte. Wie er als Knabe Aemilian die Tiere hütete und seine erste Begegnung mit dem Einsiedler Felix hatte - vielleicht dem einzigen Menschen, der den verträumten, grüblerischen Jungen verstand, der ihm zu Einsichten verhalf, von denen er bisher nur eine verschwommene Ahnung hatte. Aemilian öffnete ihm sein Herz, er liebte ihn mehr als den wortkargen Vater, mehr als seine mit den jüngeren Geschwistern beschäftigte Mutter. Felix, der Einsiedler, wurde sein Lehrer. Es gab Probleme. Er vernachlässigte wegen des Unterrichtes seine Pflichten als Hütejunge, doch die Eltern brauchten ihn als Arbeitskraft. Sie machten ihm Vorwürfe, die Mutter
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