Der Jakobsweg
Verärgert, weil es ihr nicht gelang, den Spaßmacher zu schützen, überredete sie ihren Gemahl, die Tat zu rächen. Der aber wollte sich die Hände nicht schmutzig machen. Deshalb sorgte er dafür, daß die sieben Brüder von den Arabern gefangen wurden. Den Arabern ließ er die Nachricht zukommen, die Jünglinge seien gefährliche Missetäter, die sofort getötet werden müßten. Um nicht die Rache des Vaters auf sich zu ziehen, schickte er seinen bis dahin noch ahnungslosen Schwager Gonzalo Gustios mit einem diplomatischen Sendschreiben zum maurischen Feldherrn Almansor, jener, der San Millán de Suso zerstört haben soll. In dem Brief stand, der Bote sei auf der Stelle umzubringen. Nun durchschaute Almansor die List. Den ersten Auftrag hatte er noch ausführen lassen, aber als er bemerkte, daß der Überbringer des Schreibens der Vater der zuvor Getöteten sei, ließ er ihn leben. Vielleicht weniger aus Mitleid, sondern um ein Druckmittel gegen Ruy Velasquez in der Hand zu behalten. Viele Jahre war Gonzalo Gustios ein Gefangener von Almansor. Die Schwester Almansors verliebte sich in den gefangenen Christen und gebar einen Sohn. Ihr Kind, Mudarra, wuchs mit dem brennenden Wunsch seines Vaters auf, die Halbbrüder zu rächen. Und Mudarra ruhte nicht, bis er Ruy Velasquez und Doña Lambra auf spürte und tötete.
Die Überreste der sieben Brüder liegen hier neben mir in ihren Särgen. Sie hatten ein kurzes Leben und einen schnellen Tod durch einen Schwerthieb. Was aber mag mit Mudarra geschehen sein, nachdem er das Rachegelübde seines Vaters erfüllt hatte? Ich könnte mir denken, daß er schon bald in einem der Kämpfe zwischen Christen und Arabern getötet wurde. Auf wessen Seite wird er gestanden haben und wie mag er mit dem Konflikt fertig geworden sein, von Geburt halb Moslem, halb Christ? Und die schöne Schwester Almansors, wie ist ihr Leben verlaufen? Durfte Gonzalo als Greis endlich nach Hause? Was ist aus seiner ersten Frau, die sieben Söhne gebar und wieder verlor, geworden? Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich mir die vielen Menschen vorstelle, die grausame Schicksale ertragen mußten. Wieviel Verzweiflung und Haß, wieviel Leid, Tränen und Flüche hat es schon auf der Erde gegeben.
Verglichen mit dem Mittelalter ist unser Leben scheinbar gesittet und geregelt und die Leidenschaften sind weitgehend gebändigt. Damals jedoch entzündeten sich die Emotionen schnell am verletzten Ehrgefühl. Gekränkte Ehre konnte nur durch den Tod des Gegners wiederhergestellt werden. Jedes Unrecht forderte Rache. Unrecht gebar Gegenunrecht. Tod um Tod! Aber sind wir wirklich anders? Auch wir führen weiter Kriege und zerstören die Umwelt. Unsere Zivilisation, auf die viele so stolz sind, ist nur wie eine dünne Schale, die kaum verdeckt, daß auch unser Leben von den elementaren Naturgesetzen bestimmt wird.
In der Nacht wache ich immer wieder auf. Im Mondlicht schimmern die Steinplatten der Särge neben mir. Ich träume von einer wilden Schlacht, wache wieder auf und sehe beruhigt den Mond durch die Arkadenbögen schimmern. Ich bin müde, doch kann ich lange nicht wieder einschlafen. Am Morgen erwache ich mit einem schweren Kopf und dem Gefühl der Enttäuschung. Nichts ist geschehen! Was hatte ich denn auch erwartet? Natürlich glaube ich nicht an Visionen, San Millán hätte mir aber trotzdem erscheinen können, aber nicht einmal im Traum hat er zu mir gesprochen. Hatte nicht der Pfarrer in Azofra versprochen, in San Millán de Suso würde ich Wichtiges über mich erfahren? Zwei volle Tage habe ich für diesen Abstecher aufgewendet, und heute sind es noch einmal zwanzig Kilometer zurück zum Pilgerweg. San Millán! Er hat sich mir nicht gezeigt und mir keinen Rat gegeben.
12 Von San Millán de Suso nach Santo Domingo
Die ersten Schritte sind mühsam. Die Füße fühlen sich klumpig an; die festen Wanderschuhe zwängen sie ein. Gestern bin ich barfuß oder in den blauen Sandalen gelaufen und hatte gehofft, der Ruhetag würde meinen Füßen guttun, das Gegenteil ist der Fall. Jetzt spüre ich erst richtig, wie mitgenommen sie nach elf Wandertagen sind. Oder schiebe ich die leidigen Füße als Grund vor, um nicht weitergehen zu müssen? Mir scheint, ich bewege mich im Kreis. Ich hatte geglaubt, ich müsse einfach nur aufbrechen, mich aus verbrauchten, beengenden Bindungen befreien, dann würde sich schon etwas Neues, Sinnvolles ergeben. Aber ich habe kein Ziel. Das ist es! Ich wandere durch mein Leben,
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