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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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weinte. Aemilian schlief kaum noch. Er versuchte, die Anforderungen der Eltern und die des Lehrers gleichzeitig zu erfüllen. Da erkrankte er schwer. Nur langsam genas der Junge. Danach war er verändert, kein Kind mehr, sondern ein nachdenklicher, junger Mann. Er verließ die Eltern und sein Dorf, widmete sein Leben ganz den Lehren, die ihm Felix vermittelte. Ich denke ihn mir als einen schlanken Jüngling, der durch die Arbeit als Hirte flink und zäh geworden ist, braungebrannt von der Sonne. Schwarze Locken fallen ihm bis auf die Schultern. Er hat ungewöhnliche Augen. Groß und schwarz, wen er anblickt, der fühlt sich durchschaut, aber auch verstanden.
    Eigenartigerweise schaffe ich es nicht, ihn älter werden zu lassen. Er bleibt für mich der unfertige Jüngling, der noch sucht, der mit sich kämpft, dem es schwerfällt, sich zu entscheiden und der dennoch weiß, daß er die Familie und seine Freunde verlassen muß, weil ihm ein anderes Leben vorgezeichnet ist. In meiner Phantasie nehme ich selbst die Gestalt verschiedener Figuren an. Zuerst bin ich Felix, der Einsiedler. Diese Rolle macht mir Spaß. Ich freue mich an der Wißbegier und Intelligenz des Jungen. Natürlich kann ich mir nur schwer vorstellen, ihn das Christentum zu lehren, aber ich bringe ihm bei, die Tiere des Waldes zu verstehen, lehre ihn die Sprache der Vögel. Nicht nur, daß jede Vogelart ihren eigenen Reviergesang hat, man kann aus ihrem Gezwitscher und den Rufen viel mehr heraushören: Sie warnen vor Gefahren, sie teilen sich mit, ob sich ein Fuchs anschleicht, ein Marder im Gebüsch lauert oder ein Sperber sie bedroht. Ihr Gesang zeigt an, ob das Nest schon gebaut ist oder erst noch ein Nistplatz gefunden werden muß, ob das Weibchen bereits Eier gelegt hat und brütet oder die Jungen schon geschlüpft sind. Sogar, ob es regnen oder am nächsten Tag die Sonne scheinen wird, kann man aus dem Vogelgesang erfahren.
    Aemilian ist ein guter Schüler, sein Gehör ist sogar besser als meines, so kann er die feinen Töne noch genauer unterscheiden. Während ich die liebevolle Achtung und Anbetung des Jungen genieße, den ich nicht wie einen Schüler, sondern wie einen Sohn in mein Herz schließe, merke ich, daß ich lieber selbst Aemilian sein würde. Wie oft habe ich mir als Kind gewünscht, wenn ich in den Wäldern meiner Heimat Freyburg umherstreifte, in den tiefen Buchenwäldern des Rödels, jemandem zu begegnen, den ich alles fragen könnte, der mir alles erklären würde. Ich mußte alles allein begreifen und lernen. Kein Wunder, daß ich mir in der Welt meiner Kindheit einsam und verloren vorkam, denn es gab niemanden, der mir Rat und Trost geben konnte.
    Ich wechsle also von der Person des Einsiedlers in die eines Dorfbuben über und bin nun der Freund des Aemilian. Aber wir sind uns zu ähnlich. Ich bringe keinen Gegensatz zu Aemilian zustande. Der Bub ist wie das jüngere Abbild von Aemilian. Er bewundert den Älteren, folgt ihm überallhin und ahmt ihn so lange nach, bis sie eins werden. Besser gelingt mir da schon das Mädchen. Sie ist fremd im Dorf. Niemand kennt ihre Eltern. Sie wurde als Kleinkind im Wald gefunden und von der Familie des Dorfältesten aufgenommen. Aber sie bleibt die Fremde, der man mißtraut, weil ihre Herkunft unbekannt ist. Als ich noch klein bin, leide ich sehr darunter, nicht so wie die anderen zu sein. Ich bin traurig und weine oft. Ich will geliebt sein und in die Gemeinschaft passen. Allmählich merke ich aber, daß mir mein Fremdsein nicht nur Leid bringt, sondern auch Freiheit und Unabhängigkeit, die die Dorfleute nicht besitzen. Ich kann tagelang durch die Wälder streifen, und niemanden kümmert meine Abwesenheit. Ich brauche nicht die schwere Feldarbeit und die eintönige Arbeit im Haus abzuleisten, ich gehe einfach meiner Wege. Die Dörfler schimpfen mich ein unnützes Frauenzimmer. Mich stört ihre Mißachtung wenig, hatten sie mich doch auch nicht beachtet, als ich mich noch um ihre Liebe bemühte. Bei einem meiner Streifzüge begegne ich Aemilian. Er gefällt mir, weil er nicht wie die anderen ist. Seine Lehrzeit bei dem Einsiedler hat er beendet und haust nun allein in seiner Höhle. Ich bleibe bei ihm. Später versuche ich, ihn zu überreden, mit mir zu kommen, hinaus in die Welt. Ich bin neugierig zu erfahren, was es hinter den Wäldern noch zu entdecken gibt. Er aber will nicht mitkommen und behauptet, er müsse bleiben, da ihn die Menschen hier brauchen würden. Das ärgert mich sehr und

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