Der Janson-Befehl
Herz schlug wie wild. Obwohl er sich der Todesgefahr bewusst war, musste er auf die professionelle Selbstachtung der Scharfschützen vertrauen: Spezialisten dieses Kalibers hielten sich viel auf ihre Präzision zugute; unbeteiligte Passanten wie diese hier zu treffen wäre höchst amateurhaft. Und die Brise wehte immer noch.
»Entschuldigen Sie bitte, Madam«, sagte er zu der Frau. »Ob ich mir wohl einmal kurz Ihr Glas ausleihen dürfte?«
Er blinzelte dem Mädchen zu.
Die Kleine brach sofort in Tränen aus. »Nein, Mammi!«, schrie sie. »Es gehört mir, mir, mir!«
»Bloß einen Augenblick?«
Wieder lächelte Janson, verdrängte die Verzweiflung, die ihn erfasst hatte. In seinem Kopf tickten die Sekunden dahin.
»Wein doch nicht, Püppchen«, sagte die Mutter und streichelte das gerötete Gesicht des Mädchens. »Mammi kauft dir einen Lutscher. Das ist doch fein!«
Sie sah Janson an. »Viola ist sehr empfindlich«, sagte sie kühl. »Sehen Sie nicht, wie Sie sie durcheinander gebracht haben?«
»Es tut mir wirklich Leid.«
»Dann lassen Sie uns bitte in Ruhe.«
»Würde es etwas bewirken, wenn ich Ihnen sage, dass es eine Angelegenheit auf Leben und Tod ist?«
Janson ließ ein Lächeln aufblitzen, von dem er hoffte, dass es gewinnend war.
»Du lieber Gott, ihr Yankees, ihr bildet euch ein, dass euch die ganze Welt gehört. Ihr könnt einfach nicht kapieren, wenn jemand Nein sagt.«
Zu viele Sekunden waren verstrichen. Die Brise hatte sich gelegt. Janson konnte sich den Scharfschützen, den er nicht sehen konnte, plastisch vorstellen. Vom Gebüsch verborgen oder vielleicht auf einen starken Ast gestützt, möglicherweise auch auf dem Ausleger eines Krans sitzend, dessen Stahl gitter und Hydraulik jedes Schwanken reduzierten. Aber wie auch immer die Position des Scharfschützen sein mochte, seine wichtigste Tarnung war seine Unbeweglichkeit.
Janson kannte die schreckliche Klarheit, das Bewusstsein, aus dem alle anderen Gedanken gelöscht waren, kannte die Empfindungen des Scharfschützen aus eigener Erfahrung. Er hatte in Little Creek eine gründliche Scharfschützenausbildung mitgemacht und hatte das Gelernte häufig einsetzen müssen. Da waren die Nachmittage, die er mit einem auf zwei Sandsäcken aufgelegten Scharfschützengewehr, einer Remington 700, verbracht hatte, das Warten auf die schimmernde Bewegung im Zielfernrohr, die ihm verriet, dass sein Ziel ins Blickfeld kam, und aus dem Funkgerät die Stimme Demarests an seinem Ohr, beratend, drängend, beruhigend. »Sie werden es spüren, ehe Sie es sehen, Janson. Lassen Sie zu, dass Sie es spüren. Entspannen Sie sich.«
Wie überrascht er war, als er schließlich abdrückte und sein Ziel traf. Er hatte nie denselben Grad an Perfektion erreicht wie jene, die ihn jetzt beobachteten, aber er machte es gut und verlässlich, weil er es musste. Und weil er selbst einmal auf der anderen Seite des Zielfernrohrs gestanden hatte, empfand er seine augenblickliche Lage umso bedrückender.
Er wusste, was sie sahen, wusste, was sie dachten.
Die Welt des Meisterschützen würde sich auf das kreisförmige Bild in seinem Zielfernrohr reduzieren, und dann auf die Beziehung zwischen dem bewegten Körper und dem Fadenkreuz im Zielfernrohr. Seine Waffe war eine Remington 700 oder eine Galil 7.62 oder eine M40A1. Er würde den Schweißpunkt gefunden haben, den Kontaktpunkt zwischen seiner Wange und dem Gewehrkolben; die Waffe würde sich wie eine Verlängerung seines Körpers anfühlen. Er würde tief einatmen, den Atem dann ganz entweichen lassen, und dann ein weiterer Atemzug, den er diesmal nur halb ausatmete. Ein Laserentfernungsmesser würde ihm die präzise Distanz verraten: Das Zielfernrohr würde, auf die Zielentfernung eingestellt, das Absenken der Flugbahn des Geschosses kompensieren. Der Schnittpunkt des Fadenkreuzes würde auf dem Rechteck haften bleiben, das der Oberkörper der Zielperson war. Er würde noch einmal etwas ausatmen, die restliche Luft in der Lunge festhalten - und dann würde der Finger den Abzug streicheln...
Janson ließ sich auf den Boden sinken, setzte sich neben das weinende Mädchen. »Hey«, sagte er. »Das wird schon wieder gut.«
»Wir mögen dich nicht«, jammerte sie.
Ihn persönlich? Amerikaner im Allgemeinen? Wer konnte schon die Gedanken einer Siebenjährigen ergründen?
Janson griff sanft nach dem Fernglas, hob den Riemen von ihren Schultern und rannte schnell davon.
»Mammi!«
Es kam halb wie ein Schrei, halb wie ein
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