Der Janson-Befehl
Kalif auf ihn zuging und ihn dabei scharf musterte, spürte Janson ein Prickeln im Nacken. Der Kalif kam näher und näher, bis er nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war. Janson erinnerte sich daran, dass unterschiedliche Kulturen auch unterschiedliche Vorstellungen von der persönlichen Intimsphäre hatten, dass Araber typischerweise näher beieinander standen, als Amerikaner oder Europäer das taten. Der Kalif legte Janson die Hand auf die Schulter.
Eine sanfte, freundliche, vertrauliche Geste - von dem Mann, der seine Frau getötet hatte.
Janson zuckte unwillkürlich zusammen.
Eine Flut von Bildern huschte durch sein Bewusstsein: eine wahre Kaskade von Zerstörung, das eingestürzte Bürogebäude in der Innenstadt von Caligo, der Anruf mit der Nachricht, dass seine Frau tot war.
Plötzlich veränderten sich die Züge des Kalifen, wurden verschlossen.
Janson hatte sich verraten.
Der Meuchelmörder wusste Bescheid.
Die Mündung eines langläufigen Revolvers stieß Janson gegen die Brust. Der Kalif hatte seine Entscheidung getroffen; sein verdächtiger Besucher würde diesen Raum nicht lebend verlassen.
Mathieu Zinsou blickte in die bis zum letzten Platz gefüllte Versammlungshalle, sah Reihe um Reihe mächtiger Männer und Frauen, die anfingen, unruhig zu werden. Er hatte versprochen, dass seine einleitenden Worte kurz sein würden; inzwischen waren sie bereits langatmig und weitschweifig geworden, etwas, was überhaupt nicht seiner Gewohnheit entsprach. Und doch blieb ihm keine andere Wahl, als auf Zeit zu spielen! Er sah, wie der amerikanische UN-Botschafter mit seinem Kollegen, dem ständigen Vertreter der USA, Blicke wechselte: Wie konnte es sein, dass dieser hoch gerühmte Meister der diplomatischen Rede plötzlich so langweilig daherschwa-felte?
Der Blick des Generalsekretärs huschte zu den Blättern vor ihm auf dem Rednerpult. Vier Absätze Text, die er bereits verlesen hatte; er hatte sonst nichts vorbereitet, und in Anbetracht der Spannung, unter der er stand, auch keine Vorstellung, was man passenderweise noch sagen konnte. Man musste ihn sehr gut kennen, um wahrzunehmen, dass alles Blut aus seinem dunkelbraunen Gesicht gewichen war.
»Auf der ganzen Welt sind Fortschritte erzielt worden«, sagte er mit voll tönender Stimme, auch wenn die Botschaft peinlich banal war. »Echte Fortschritte in der Entwicklung, und die internationale Zusammenarbeit in Europa hat sich verstärkt, von Spanien bis in die Türkei, von Rumänien bis Deutschland, von der Schweiz, Frankreich und Italien bis hin zu Ungarn, Bulgarien und der Slowakei, ganz zu schweigen von der Tschechischen Republik, Slowenien und natürlich Polen. Auch in Lateinamerika wurden echte Fortschritte erzielt von Peru bis Venezuela, von Ecuador bis Paraguay, von Chile bis Guyana und Französisch-Guyana, von Kolumbien bis Uruguay, Bolivien und Argentinien.«
Plötzlich wusste er nicht mehr weiter: Ich glaube, in Südamerika gibt es fast hundert Staaten. Er überflog die Reihen der Delegierten vor ihm, und seine Augen huschten von einem Namensschild zum nächsten. »Bis hin zu, nun ja, Surinam!«
Ein Gefühl der Erleichterung, flüchtig wie das Aufflammen eines Glühwürmchens. »Die Entwicklung in Surinam war äußerst ermutigend, in der Tat sehr ermutigend.«
Wie lange konnte er das noch hinziehen? Weshalb brauchte Janson so lang?
Zinsou räusperte sich. Er war ein Mann, der nur selten schwitzte; im Augenblick tat er das. »Und natürlich wäre es falsch, die Aufmerksamkeit nicht auch auf die Fortschritte zu lenken, die wir in den Ländern der Pazifikrandzone erzielt haben.«
Janson starrte den Mann an, der ihn des einzigen Glücks beraubt hatte, das ihm je zugeflogen war, den Mann, der ihm den liebsten Menschen geraubt hatte.
Er verbeugte sich leicht, hielt die Füße dabei in Schulterbreite gespreizt. »Ich habe dich beleidigt«, sagte er bedrückt. Und riss im gleichen Augenblick den linken Ellbogen hoch, über die Schulter des Kalifen, packte mit beiden Händen das Handgelenk mit der Hand, die die Waffe hielt. Er riss den Arm des Mannes ruckartig nach oben und blockierte ihn. Dann zuckte sein linkes Bein vor, und die beiden Männer landeten hart auf dem Schieferboden. Der Kalif versetzte Janson mit der linken Hand schnell hintereinander mehrere Schläge gegen den Kopf. Aber wenn er versuchte, sich zu schützen, würde sich der Kalif ihm entwinden können: Janson hatte also keine Wahl, als die schmerzhaften Schläge hinzunehmen.
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