Der Joker
im Schatten und Tommy im Licht. Eine Metapher für die Wirklichkeit.
In diesem Moment, während ich mit meinem Bruder rede und wir einander unsere knappen Fragen beantworten, fühle ich mich zum ersten Mal an diesem Tag wirklich wohl.
»Wie läuft’s an der Uni?«
»Ich krieg ganz gute Noten. Besser, als ich gehofft habe.«
»Und Ingrid?«
Das Schweigen breitet sich aus, bis wir uns nicht mehr beherrschen können. Es zerbricht zwischen uns und wir müssen beide lachen. Ich fühle mich wie ein kleiner Junge, aber ich gratuliere ihm trotzdem, und Tommy gratuliert sich selbst.
»Sie ist nicht übel«, sagt er, und aus einem Impuls heraus sage ich ihm, dass ich stolz auf ihn bin - nicht wegen Ingrid. Ich meine es ehrlich. Ingrid ist nichts im Vergleich zu dem, wovon ich rede.
Ich sage: »Gut gemacht, Tommy«, lege ihm meine Hand auf den Rücken und stehe auf. »Viel Glück.«
Während ich die Stufen hinabgehe, sagt er: »Ich rufe dich demnächst mal an. Dann treffen wir uns mal.«
Aber auch ihm kann ich das nicht durchgehen lassen. Ich drehe mich um und sage mit einer Ruhe, die mich selbst überrascht: »Das bezweifle ich, Tommy.« Es fühlt sich gut an. Es ist ein schönes Gefühl, den Lügen den Rücken zu kehren.
Tommy nickt.
Er sagt: »Du hast Recht, Ed.«
Wir sind immer noch Brüder und - wer weiß? Vielleicht eines Tages. Eines Tages, da bin ich mir fast sicher, treffen wir uns mal und erinnern uns und sprechen über viele Dinge. Dinge, die wichtiger sind als die Uni und Ingrid.
Aber noch nicht jetzt.
Ich gehe über den Rasen und sage: »Mach’s gut, Tommy. Danke, dass du rausgekommen bist.«
Eine Sache macht mich glücklich:
Eigentlich hatte ich mit ihm auf der Veranda sitzen bleiben wollen, bis die Sonne uns beide mit ihrem Licht beschien, aber ich tat es nicht. Ich stand auf und ging die Stufen hinab. Ich laufe lieber der Sonne entgegen, als auf sie zu warten.
Als Tommy im Haus verschwunden ist und ich schon ein Stück gegangen bin, kommt meine Mutter nach draußen.
»Ed!«, ruft sie.
Ich drehe mich um.
Sie kommt näher. »Frohe Weihnachten, okay?«
»Ebenfalls.« Dann füge ich hinzu: »Es sind die Menschen, Ma, nicht der Ort. Wenn du hier weggegangen wärst, wärst du trotzdem überall dieselbe Person gewesen.« Das ist eigentlich genug der Wahrheit, aber ich kann nicht schweigen. »Wenn ich jemals hier weggehen sollte...« - ich muss schlucken - »dann werde ich dafür sorgen, dass ich zuerst hier ein besserer Mensch geworden bin.«
»Okay, Ed.« Sie ist verblüfft und ich empfinde Mitgefühl für diese Frau auf dieser Veranda in dieser armseligen Straße in dieser gewöhnlichen Stadt. »Hört sich gut an.«
»Bis bald, Ma.«
Ich bin weg.
Das musste mal gesagt werden.
Ich gehe kurz zu Hause vorbei, um etwas zu trinken, und mache mich dann auf den Weg zu Milla. Sie wartet schon
ungeduldig, trägt ein hellblaues Sommerkleid und hat ein Geschenk in der Hand. Auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck von Erregung.
»Für dich, Jimmy«, sagt sie und gibt mir die große, flache Schachtel.
Das schlechte Gewissen nagt an mir, weil ich kein Geschenk für sie habe. »Tut mir Leid«, sage ich, aber sie bringt mich mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen.
»Es ist genug, dass du zu mir zurückgekommen bist«, sagt sie. »Willst du es nicht aufmachen?«
»Nein, ich warte noch damit«, sage ich und biete der Dame meinen Arm. Sie nimmt ihn und wir gehen aus dem Haus und in Richtung meiner Hütte. Ich frage sie, ob ich ein Taxi rufen soll, aber sie möchte gerne laufen. Auf halbem Weg fange ich an zu fürchten, dass sie es nicht schaffen wird. Sie hustet heftig und schnappt nach Luft. Ich stelle mir vor, dass ich sie tragen muss. Aber sie hält durch, und ich schenke ihr Wein ein, als wir bei mir sind.
»Danke, Jimmy«, sagt sie. Dann lässt sie sich in den Sessel sinken und schläft sofort ein.
Sie sitzt vollkommen bewegungslos da, und ich gehe ein paarmal zu ihr, um nachzusehen, ob sie noch lebt, aber ich kann ihren Atem hören.
Schließlich setze ich mich zu ihr ins Wohnzimmer, während draußen vor dem Fenster der Tag erstirbt.
Nachdem sie wach geworden ist, essen wir Truthahn von gestern Abend und Bohnensalat.
»Wunderbar, Jimmy«, strahlt die alte Dame, »einfach wunderbar.« Ihr Lächeln knistert.
Unter normalen Umständen würde ich jeden am liebsten erschießen, der das Wort »wunderbar« benutzt, aber zu
Milla passt es einfach. Sie wischt sich den Mund ab,
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