Der Joker
meiner Veranda und trinken billigen Fusel, wie üblich. Der Türsteher kommt heraus und will etwas abhaben, aber ich gebe ihm stattdessen einen freundlichen Klaps.
»Kriegst du immer noch diese Spielkarten zugeschickt?« Sie wusste natürlich die ganze Zeit, dass ich gelogen habe, als ich behauptete, das Karo-Ass weggeworfen zu haben. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde ja wohl ein Ass wegwerfen! Ein Ass ist kostbar. Es muss beschützt werden.
Milla , denke ich. Sophie. Die Frau in der Edgar Street und ihre Tochter Angelina.
» Nein, ich bin immer noch an der ersten dran.«
»Glaubst du, dass da noch mehr kommen?«
Ich denke darüber nach und kann mich nicht entscheiden, ob ich noch ein Ass haben will oder lieber nicht. »Die erste Karte macht schon genug Probleme.« Wir trinken.
Ich besuche Milla regelmäßig. Sie zeigt mir ihre Fotos und ich lese ihr aus »Die Sturmhöhe« vor. Es fängt langsam an, mir zu gefallen. Vor ein paar Tagen haben wir den letzten
Rest Marmorkuchen gegessen, endlich! Die alte Dame ist so freundlich wie immer. Tatterig, aber freundlich.
Am nächsten Wochenende verliert Sophie wieder ein Rennen, diesmal die 800 Meter. Sie läuft irgendwie nicht wie sonst in diesen abgewetzten, alten Schuhen. Sie braucht etwas Besseres, um so rennen zu können, wie sie es morgens tut. Morgens ist sie sie selbst. Sie ist körperlos. Beinahe außer sich.
Früh am nächsten Samstagmorgen stehe ich vor ihrem Haus und klopfe. Ihr Vater öffnet die Tür.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Ich bin nervös, als würde ich ihn fragen wollen, ob seine Tochter mit mir ausgehen darf. Ich halte den Schuhkarton in meiner rechten Hand und der Mann schaut darauf hinab. Ich strecke ihm schnell den Karton entgegen und sage: »Ich habe eine Lieferung für Ihre Tochter Sophie. Ich hoffe, es ist die richtige Größe.«
Der Schuhkarton wechselt von meiner Hand in seine. Der Mann ist verwirrt.
»Sagen Sie ihr einfach, dass irgend so ein Kerl ihr neue Schuhe geschenkt hat.«
Der Mann blickt mich an, als ob ich einen an der Waffel hätte. »Okay.« Er bemüht sich, den Spott aus seiner Stimme zu verbannen. »Das werde ich.«
»Danke.«
Ich drehe mich um und will weggehen, aber er ruft mich zurück. »Warten Sie!«
»Ja, Sir?«
Ratlos hält er mir den Schuhkarton hin, statt einer Nachfrage.
»Ich weiß«, sage ich.
Der Karton ist leer.
Ich bin unrasiert und fühle mich, als wäre ich dem Tod von der Schippe gesprungen. Ich habe erst um sechs Uhr früh meine Schicht beendet und bin direkt zu Sophies Haus gegangen und von dort aus zum Sportplatz.
Ich hole mir ein Würstchen und etwas Kaffee zum Frühstück.
Sie wird zum 1500-Meter-Lauf aufgerufen und sie geht barfuß.
Ich lächle bei dem Gedanken.
Barfüßige Schuhe ...
» Hoffentlich tritt ihr keiner drauf«, sage ich zu mir selbst.
Ein paar Minuten später kommt ihr Vater an den Zaun. Das Rennen beginnt.
Der Blödmann fängt wieder an zu brüllen.
Und Sophie stolpert auf der Geraden, nach einer Runde. Mitten in der Spitzengruppe, und die anderen Läuferinnen rennen weiter, sind bald schon fünfundzwanzig Meter vor ihr. Als sie sich wieder aufrappelt, muss ich an den Film »Die Stunde des Siegers« denken, wie Eric Liddell, jener großartige schottische Läufer, hinfällt, wieder aufsteht und dann an allen vorbeiläuft und das Rennen gewinnt.
Es sind noch zwei Runden und immer noch liegt sie ziemlich weit zurück.
Die ersten beiden Läuferinnen überholt sie mit Leichtigkeit. Sie läuft so, wie sie es jeden Morgen tut. Ohne Anstrengung. Das Einzige, was sie ausstrahlt, ist jenes Gefühl von Freiheit und die pure Gewissheit, dass sie am Leben ist. Sie braucht nichts als die Kapuze und die roten Shorts.
Ihre bloßen Füße tragen sie an der dritten Läuferin vorbei, und schon bald hat sie ihre Nemesis erreicht, ihre schärfste Rivalin. Sie rennt, überholt sie und hält den Abstand. Noch zweihundert Meter.
Wie morgens , denke ich. Die Menschen haben innegehalten und schauen zu. Sie haben gesehen, wie sie gefallen ist, wie sie aufstand und wie sie läuft. Jetzt sehen sie sie an der Spitze. Sie befindet sich jenseits aller Dinge oder Ereignisse, die sich an einem normalen Wochenende in dieser Stadt abspielen. Das Diskuswerfen wird unterbrochen, genauso wie der Hochsprung. Alles steht still. Da ist nur noch dieses Mädchen mit dem Sonnenscheinhaar und der umwerfenden Stimme an der Spitze des Feldes.
Das andere Mädchen holt auf.
Sie
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