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Der Joker

Titel: Der Joker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Zusak Alexandra Ernst
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Stück weiter und mir gegenüber steht eine kleine Person. Es ist das Mädchen.
    Das Mädchen bohrt sich die Fäuste in die Augen, um den Schlaf herauszupressen, der sich dort niedergelassen hat. Sie trägt einen gelben Schlafanzug mit roten Booten darauf und ihre Zehen krümmen sich und reiben aneinander.
    Sie schaut mich an, ohne jede Angst. Alles ist besser als der Ort, von dem sie gerade kommt.
    Flüsternd fragt sie mich: »Wer bist du?«
    »Ich bin Ed«, flüstere ich zurück.
    »Ich heiße Angelina«, sagt sie. »Bist du hier, um uns zu retten?« Ich sehe, wie ein Fünkchen Hoffnung in ihren Augen erwacht.
    Ich kauere mich nieder, um sie besser sehen zu können. Ich will Ja sagen, aber kein Wort kommt über meine Lippen. Mein Schweigen verschluckt beinahe all die Hoffnung, die die Kleine in sich hat wachsen lassen. Sie ist fast völlig verschwunden, als ich schließlich doch spreche. Ich schaue in die Augen des Mädchens und sage: »Ja, Angelina: Ich bin hier, um euch zu retten.«
    Die Hoffnung entzündet sich wieder und Angelina kommt näher. »Kannst du das denn?«, fragt sie voller Überraschung. »Ehrlich?« Selbst ein kleines Mädchen von etwa sechs Jahren
begreift, dass es aus diesem Leben kaum eine Rettung gibt. Sie will sicher sein, dass sie mir glauben kann.
    »Ich werde es versuchen«, sage ich, und das Mädchen lächelt. Sie lächelt und umarmt mich und sagt: »Danke, Ed.« Dann dreht sie sich um und zeigt auf die Haustür. Ihre Stimme wird noch leiser: »Es ist das erste Zimmer rechts.«
    Wenn es nur so einfach wäre.
     
     
    »Mach schon, Ed«, sagt sie. »Sie sind da drin...«
    Wieder rühre ich mich nicht vom Fleck.
    Die Angst hat sich um meine Füße geschlungen, und ich weiß, dass es nichts gibt, was ich dagegen tun kann. Nicht heute Nacht. Niemals, wie es scheint. Wenn ich versuche, mich zu bewegen, falle ich hin.
    Ich erwarte, dass das Mädchen mich anschreit. Etwas wie: »Aber du hast es mir versprochen, Ed! Du hast es versprochen !« Doch sie sagt nichts. Ich glaube, ihr ist klar, dass ihr Vater körperlich ungemein stark ist und ich dagegen ungemein schmächtig. Sie stolpert nun wieder zu mir und umarmt mich noch einmal.
    Das Mädchen versucht, in meine Jacke zu kriechen, als der Lärm von innen nach außen dringt. Sie umklammert mich so heftig, dass ich Angst habe, ihre Knochen könnten brechen. Als sie mich loslässt und weggeht, sagt sie: »Danke, dass du es wenigstens versuchst, Ed.«
    Ich gebe keine Antwort, denn ich spüre nichts als Scham. Ich betrachte ihre Füße, die sich umdrehen und den gelben Pyjama davontragen. Noch einmal wendet sie sich zu mir und sagt: »Auf Wiedersehen, Ed.«
    »Auf Wiedersehen«, sage ich, durch den Schleier der Schande hindurch.

    Sie macht die Tür fest zu und ich bleibe dort auf den Knien hocken. Ich lasse mich vorwärts fallen und lehne meinen Kopf gegen den Türrahmen. Mein Atem blutet. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren.
     
     
    Jetzt liege ich im Bett, von der Nacht verschluckt. Wie kann ein Mensch schlafen, wenn er nichts weiter fühlt als die Arme eines kleinen Mädchens in einem gelben Schlafanzug, die ihn im Dunkeln festhalten? Es ist unmöglich.
    Ich spüre, dass mich der Wahnsinn schon bald packen wird. Ich fürchte, dass ich verrückt werde, wenn ich nicht bald in die Edgar Street zurückkehre. Wenn bloß die Kleine nicht herausgekommen wäre... Aber ich wusste, dass sie kommen würde. Oder zumindest hätte ich es mir denken können. Jedes Mal war sie da und hat auf der Veranda gesessen und geweint, genau wie ihre Mutter, danach. Als ich flach auf dem Rücken daliege, begreife ich, dass ich ihr begegnen wollte . Ich wollte, dass sie mir Mut gibt. Dass sie mich nach drinnen zwingt. Aber es hat nicht funktioniert. Das Ganze ist - oder vielmehr: war eine absolute Katastrophe. Jetzt ist das Gefühl, das sich in mich entleert, noch viel schlimmer.
    Um 2.27 Uhr klingelt das Telefon.
    Es kreischt auf und ich springe hoch, renne hinüber und starre es an. Es verheißt nichts Gutes.
    »Hallo?«
    Die Stimme am anderen Ende wartet.
    »Hallo?«, sage ich wieder.
    Jetzt spricht die Stimme, und ich sehe einen Mund vor mir, der Worte formt. Die Stimme ist trocken und porös. Nicht unfreundlich, aber bestimmt.

    Sie sagt: »Schau in den Briefkasten, Ed.«
    Stille übermannt uns und dann lässt mich die Stimme mutterseelenallein. Das Atmen am anderen Ende der Leitung verstummt.
    Ich lege den Hörer auf und gehe langsam zur Eingangstür hinaus und

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