Der Judas-Code: Roman
haben Sie mich hierhergeführt?«, fragte sie voller Abscheu.
»Weil ich Ihnen etwas zeigen möchte.«
Er näherte sich der einzigen geschlossenen Kabinentür, öffnete sie und hielt sie Lisa auf.
Ein widerlicher Gestank schlug ihr entgegen.
Unsicher trat Lisa in den von der Gangbeleuchtung schwach erhellten Raum, denn sie wusste nicht, was sie erwartete. Die Innenkabine glich ihrer eigenen: kleines Bad, Sofa, Fernseher und ein Einzelbett an der Rückseite.
Devesh schaltete die Beleuchtung ein. Die Neonröhren flackerten, dann stabilisierten sie sich summend.
Lisa fasste sich an den Hals und taumelte zurück.
Auf dem Bett lag inmitten einer Blutlache ein Toter. Die nackten Beine waren an die Bettpfosten gefesselt, die Arme ans Kopfbrett. Er sah aus, als wäre in seinem Bauch eine Bombe explodiert. Decke und Wände waren mit Blut und Innereien bespritzt.
Lisa, der ganz kalt geworden war, schlug die Hand vor den Mund. Unwillkürlich suchte sie Zuflucht bei einer nüchternen medizinischen Betrachtungsweise.
Wo waren die inneren Organe?
»Als unsere Leute dazukamen, waren sie schon über ihn hergefallen und hatten angefangen, das rohe Fleisch zu verzehren«, erklärte Devesh. »Patienten, deren Gehirn bereits vollständig degeneriert war.«
Lisa erschauerte heftig. Auf einmal war sie sich bewusst, dass sie barfuß dastand und unter dem Nachthemd nackt war.
»Wir haben das auch schon vorher beobachtet«, fuhr Devesh fort. »Offenbar löst das Virus im Zustand katatonischer Erregung ein starkes Hungergefühl aus. Unersättliche Fressgier, sollte man wohl besser sagen. Wir haben beobachtet, dass die Opfer so lange Nahrung in sich hineinschlangen, bis ihnen der Magen platzte. Und selbst dann schlangen sie immer noch weiter.«
Mein Gott...
Lisa, die eigentlich nichts mehr schockieren konnte, stutzte. »Sie haben es beobachtet ? Wo?«
»Dr. Cummings, Sie glauben doch wohl nicht, dass wir ausschließlich Susan Tunis unter Beobachtung hatten. Wir müssen jede Facette der Krankheit studieren. Auch den Kannibalismus. Die unersättliche Fressgier weist Ähnlichkeiten zum Prader-Willi-Syndrom auf. Sagt Ihnen das was?«
Lisa schüttelte benommen den Kopf.
»Dabei handelt es sich um eine hypothalamische Störung, die ein unstillbares Hungergefühl auslöst. Der Patient hat ständig Hunger. Ein seltener genetischer Defekt. Viele Betroffene sterben schon in jungen Jahren an Magenrissen, nachdem sie zu viel in sich hineingeschlungen haben.«
Deveshs sachliche Schilderung half ihr, sich wieder ein bisschen zu erden, wenngleich sie noch immer keuchend atmete.
»Bei der Autopsie eines solchen Psychotikers stellte sich heraus, dass der Hypothalamus toxisch geschädigt war, wie es auch bei Prader-Willi-Patienten der Fall ist. Kommen dann noch katatonische Erregung und Adrenalinstimulation hinzu... Nun ja.« Devesh deutete zum Bett.
Lisa drehte sich der Magen um. Als sie sich abwandte, fiel ihr Blick auf das Gesicht des Opfers: verzerrte Lippen, leerer Blick, grauer Haarkranz.
Als sie den Mann erkannte, schlug sie entsetzt die Hand vor
den Mund. Das war John Doe, der an der Fleischessenkrankheit gelitten hatte. Aus Susans Krankengeschichte kannte sie inzwischen die Identität des Patienten.
Er hieß Applegate.
Jetzt hatte der Kannibalismus einen Namen...
Lisa stürzte auf den Gang hinaus.
Deveshs Augen funkelten vor boshafter Belustigung. Offenbar hatte der sadistische Mistkerl sie in voller Absicht halbnackt und angeschlagen hierhergeführt. Er hatte gewusst, dass sie John Doe erkennen würde.
»So, jetzt wissen Sie, womit wir es hier zu tun haben«, sagte er. »Jetzt stellen Sie sich vor, die ganze Welt wäre betroffen. Diese Gefahr versuche ich abzuwenden.«
Dass ich nicht lache, dachte Lisa, verkniff sich aber eine Bemerkung.
»Wir haben es mit einer drohenden Pandemie zu tun«, fuhr Devesh fort, während sie zum Wissenschaftstrakt zurückgingen. »Bevor die WHO eingegriffen hat, waren die ersten Patienten bereits nach Perth in Australien ausgeflogen worden. Zuvor haben sich die Touristen, die auf der Weihnachtsinsel Urlaub gemacht haben, wieder in alle vier Himmelsrichtungen zerstreut. Nach London, San Francisco, Berlin, Kuala Lumpur. Wir wissen nicht, wie viele sich wie Dr. Susan Tunis angesteckt haben, doch es braucht gar nicht viele Infizierte. Ohne gründliche Desinfektionsmaßnahmen, wie wir sie hier anwenden, ist nicht auszuschließen, dass das Virus sich bereits verbreitet.«
Devesh geleitete sie zum
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