Der Judas-Code: Roman
Virenlabor. »Vielleicht veranlasst Sie das ja, ein bisschen mehr Entgegenkommen zu zeigen.«
Als sie das Labor betraten, wandten sich ihnen fragende Gesichter zu.
Lisa schüttelte wortlos den Kopf und ließ sich auf einen Hocker sinken.
Dr. Eloise Chenier erhob sich von ihrem Sitzplatz am Computer. »In Ihrer Abwesenheit habe ich Dr. Pollums Daten aufgerufen«, sagte sie. »Hier ist die schematische Darstellung des Proteins, nach der Sie verlangt haben. Es stammt von dem Virus in der toxischen Brühe.«
Die Ärztin trat zurück, sodass alle das Protein sehen konnten, das wie ein Spielzeug auf dem Monitor rotierte.
Das Objekt stellte die ikosaedrische Hülle des Virus dar: zwanzig Dreiecke, die wie bei einem Fußball kugelförmig angeordnet waren. Abgesehen davon, dass einige Dreiecke Ausstülpungen von Alpha-Proteinen auswiesen, während andere, die von Beta-Proteinen gebildet wurden, eingefallen waren. Lisa hatte um die Darstellung gebeten, weil sie ihre Hypothese überprüfen wollte.
Sie zeigte auf den Monitor. »Wären Sie so nett, die Rotation zu stoppen?«
Chenier klickte auf eine Schaltfläche, worauf das rotierende Bild zum Stillstand kam.
Lisa richtete sich auf. »Würden Sie jetzt bitte das Bild des Proteins öffnen, das in Susan Tunis’ Gehirnflüssigkeit gefunden wurde?«
Ein zweiter rotierender Fußball erschien auf dem Bildschirm. Lisa trat näher heran und musterte ihn. Diesmal betätigte sie selbst die Maus und gefror das Bild in der gewünschten Position ein.
Sie wandte sich zu ihren Zuhörern um.
Devesh zuckte mit den Schultern, wobei sich sein ganzer Oberkörper mitbewegte. »Ja, und? Ich sehe da keinen Unterschied?«
Lisa trat zurück. »Bitte lassen Sie die beiden Proteine nebeneinander anzeigen.«
Henri erhob sich überrascht. »Die sind nicht identisch!«
Lisa nickte. »Sie verhalten sich wie Spiegelbilder zueinander. Auf den ersten Blick mögen sie gleich aussehen, doch in Wahrheit sind sie grundverschieden. Ein Sonderfall der geometrischen Isomerie. Zwei Varianten mit der gleichen geometrischen Form, die sich spiegelbildlich zueinander verhalten.«
»Cis- und Trans-Isomere«, merkte Chenier an.
Lisa tippte auf den ersten Monitor. »Das hier ist das Trans-Isomer, die bösartige Variante des Virus. Sie befällt Bakterien und verwandelt sie in wahre Killer.« Sie deutete auf den zweiten Bildschirm, auf dem das Virus aus Susans Schädel dargestellt war. »Das ist die Cis-Form oder das gute Virus, das heilt.«
»Cis und trans«, murmelte Miller. »Gut und böse.«
Lisa führte ihre Theorie weiter aus. »Wie wir bereits wissen, hat die Trans-Form Bakterien vergiftet, um die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und auf diese Weise in das jungfräuliche Territorium des Schädelinneren vorzudringen. Es hat sogar Gesellschaft mitgebracht.«
»Nämlich die Cyanobakterien«, bemerkte Miller. »Die leuchtenden Bakterien.«
»Normalerweise schädigen die bakteriellen Toxine das Gehirn so stark, dass katatonische Erregung und psychotische Zustände die Folge sind. In Susans Fall aber ist etwas anderes passiert. Als das Virus in die Gehirnflüssigkeit vordrang, hat es sich irgendwie verändert. Die bösartige Trans-Form ist in die gutmütige Cis-Form übergegangen. Nach der Umwandlung hat das Virus sämtliche Schäden, die sein bösartiger Zwilling verursacht hat, rückgängig gemacht, die Patientin geheilt und sie in einen tiefen, erholsamen Stupor versetzt, das genaue Gegenteil des manischen Erregungszustand der anderen Patienten.«
»Wenn Sie recht haben sollten«, sagte Henri, »was ich durchaus
glaube, welcher Faktor in Susans Biochemie hat den Umwandlungsprozess dann ausgelöst?«
Lisa zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen erleben werden, dass noch andere Patienten eine solche Veränderung durchmachen. Susan wurde vor fünf Wochen infiziert. Deshalb ist es vielleicht noch zu früh, ein Urteil zu fällen. Allerdings glaube ich, dass es sich um ein sehr seltenes Ereignis handelt. Um irgendeine genetische Besonderheit. Hat jemand von Ihnen schon mal vom Eyam-Phänomen gehört, das während der Schwarzen Pest auftrat?«
Chenier hob wie ein eifriges Schulmädchen die Hand. »Ja, ich.«
Lisa nickte. Es war nicht verwunderlich, dass die Expertin für ansteckende Krankheiten die Geschichte kannte.
Chénier erklärte, was es damit auf sich hatte. »Eyam war ein kleines Dorf in England. Im sechzehnten Jahrhundert brach dort die Pest aus.
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