Der Judas-Code: Roman
in einer anderen Welt gelandet. Von den Minaretten der zahllosen Istanbuler Moscheen rief der Muezzin zum Morgengebet. Die aufgehende Sonne warf lange Schatten und ließ die zahlreichen Kuppeln und Türme aufflammen.
Von dem Dachrestaurant, in dem er zusammen mit Seichan und Kowalski wartete, hatte Gray freie Sicht nach allen Seiten. Alle drei wirkten bedrückt. Sie litten unter dem Jetlag und waren gereizt. Der dumpfe Kopfschmerz hinter Grays Augen rührte allerdings vor allem von seinen Sorgen her. Verfolgt von Killern, gejagt von der eigenen Regierung, waren ihm Zweifel an seiner gegenwärtigen Allianz gekommen.
Und jetzt auch noch diese geheimnisvolle Einladung nach Istanbul. Was sollte er hier? Das ergab keinen Sinn. Seichan stand ebenfalls vor einem Rätsel. Sie träufelte Honig in ihre Teetasse mit Goldrand. Der Ober, bekleidet mit einer traditionellen, mit blauen und goldenen Stickereien verzierten Weste, erbot sich, Gray nachzuschenken.
Er schüttelte den Kopf; vom vielen Koffein hatte er schon Ohrensausen.
Kowalski sprach der Ober gar nicht erst an. Der Hüne - bekleidet mit Jeans, schwarzem T-Shirt und langem grauem Mantel - hatte den Tee ausgelassen und sich gleich über das Dessert hergemacht. Er trank gekühlten Brandy, der hier raki genannt wurde. »Schmeckt wie Lakritze mit Asphalt«, hatte er gemeint und angewidert den Mund verzogen, doch jetzt war er schon beim zweiten Glas angelangt. Außerdem hatte er das Büfett entdeckt und sich
Butterbrote mit Oliven, Gurken und Käse sowie ein halbes Dutzend hart gekochte Eier einverleibt.
Gray hatte keinen Appetit. Er hatte zu viele Sorgen und zu viele Fragen. Er erhob sich und trat an das Mäuerchen der Dachterrasse, wobei er darauf achtete, im Schatten eines Sonnenschirms zu bleiben. In Istanbul herrschte eine Gluthitze, und es stand unter ständiger Satellitenüberwachung. Gray fragte sich, ob sein Foto nicht schon vom Gesichtserkennungsprogramm irgendeines Geheimdienstes analysiert wurde.
Waren Sigma oder die Gilde ihm dicht auf den Fersen?
Seichan trat neben ihn und stellte ihre Teetasse auf dem gefliesten Mäuerchen ab. Sie hatte den ganzen Flug über im Liegesessel der ersten Klasse geschlafen. Jetzt hatte sie wieder etwas Farbe, doch sie humpelte noch immer, da die Verletzung ihr Schmerzen bereitete. Im Flugzeug hatte sie sich umgezogen und trug jetzt eine bequeme khakifarbene Hose und eine weite mitternachtsblaue Bluse. Die Motorradstiefel von Versace hatte sie anbehalten.
»Warum hat Monsignor Verona uns hierher nach Istanbul bestellt, was meinen Sie?«, fragte sie.
Gray lehnte sich mit der Hüfte gegen die Mauer. »Ach? Dann reden wir jetzt also miteinander?«
Sie verdrehte andeutungsweise die Augen. Seit ihrem kurzen Aufenthalt im Krankenhaus von Georgetown hatte sie keine weiteren Erklärungen abgegeben. Dazu hatten sie auch keine Zeit gehabt. Unterwegs hatte sie einen kurzen Anruf gemacht. Beim Vatikan. Gray hatte der Unterhaltung gelauscht. Vigor hatte ihren Anruf anscheinend erwartet und war nicht sonderlich überrascht gewesen, als er erfuhr, dass Gray bei ihr war.
»Das hat sich bereits herumgesprochen«, hatte der Monsignore erklärt. »Interpol, Europol, alle suchen nach Ihnen. Ich nehme an, Sie waren es, die mir die kleine Nachricht im Turm der Winde hinterlassen hat.«
»Sie haben die Inschrift entdeckt.«
»Ja.«
»Sie haben die Schrift erkannt.«
»Natürlich.«
Seichan hatte erleichtert gewirkt. »Dann müssen wir uns beeilen. Viele Menschenleben sind in Gefahr. Wenn Sie Ihre Ressourcen bündeln und herausfinden, was...«
»Ich weiß, was die Inschrift bedeutet, Seichan«, fiel Vigor ihr tadelnd ins Wort. »Und ich weiß, welche Folgerungen sich daraus ergeben. Wenn Sie mehr wissen wollen, sollten Sie beide sich mit mir in Istanbul im Hotel Ararat treffen. Ich werde morgen um sieben dort sein. Im Dachrestaurant.«
Nach dem Anruf hatte Seichan sich eilig falsche Papiere besorgt und einen Flug gebucht. Gray hatte sie versichert, die Gilde wisse nichts von ihren Kontakten. »Jemand war mir noch was schuldig.«
Als Seichan ihm das Gesicht zuwandte und vor Schmerzen zusammenzuckte, kehrte er in die Gegenwart zurück. Mit dem Ellbogen stieß sie gegen die Teetasse. Gray fing sie auf, bevor sie auf die Straße fallen konnte. Seichan musterte die Tasse leicht beunruhigt. Vermutlich war sie eine solche Ungeschicklichkeit nicht gewohnt, denn sie hatte sich stets unter Kontrolle.
Im nächsten Moment verhärtete sich ihr
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