Der Judas-Schrein
dem Erdreich ragte, und holte ein weiteres Mal aus. Als der Stahl diesmal in die Wurzel eindrang, gab sie schlagartig nach. Die Spitzhacke versank bis zum Schaft in dem knorrigen Gebilde, sodass Dittrich durch seinen eigenen Schwung nach vorne gerissen wurde. Der Stiel prellte ihm aus den Händen.
Normalerweise hätten Grieg, Paulsen und die Männer von Karmanns Schicht lauthals aufgelacht, aber niemand wagte eine dumme Bemerkung; sogar Degel, der Bergjunge, hielt den Mund.
»Scheiße!« Dittrich zerrte die Spitzhacke aus dem Gebilde und holte ein weiteres Mal aus. »Dich krieg ich klein!«
»Halt!« Grieg stellte sich Dittrich in den Weg. Der alte Mann starrte mit seinem gesunden Auge auf die Hacke. Er hob die Karbidlampe und schirmte das Licht mit der Hand ab.
»Was ist los? Geh mir aus dem Weg!«, verlangte Dittrich.
Grieg streckte den Arm aus und fuhr mit dem Finger über die Stahlspitze der Hacke. »Hier.« Er hielt die Hand ins Licht der Lampe. Seine Fingerkuppe glänzte schwarz.
Dittrich nahm die Hacke herunter und drehte die Spitze im Licht. Der Stahl war bis zum Schaft schwarz. »Was zum Teufel ist das?« Selbst bis in sein Gesicht waren die schwarzen Tropfen gespritzt und am Brillenglas zerplatzt, doch er schien es gar nicht zu bemerken.
»Öl?« Paulsen trat einen Schritt nach vorne, wusste aber im gleichen Moment, dass es kein Öl war. »Schwarzes Harz vielleicht.«
Grieg schüttelte den Kopf. »In dieser Tiefe?«
»Was auch immer es ist«, murmelte Degel, »ihr habt es verletzt!«
Alle drehten sich zu dem Jungen um. Er stand über die Wurzel gebeugt und starrte sie an. Langsam senkte er seine Lampe, hielt sie schräg, sodass die Flamme nach unten leuchtete.
»Weg mit dem Feuer!«, brüllte Grieg.
Degel fuhr zurück und stolperte über eine Holzlatte. Ungewollt riss er die Lampe herum.
»Mein Gott! Pass doch auf!«, herrschte Karmann ihn an. »Erst seit drei Wochen dabei, und der Bub fackelt uns den Stollen ab.« Karmann machte einen Schritt auf Degel zu und wand ihm die Lampe aus der Hand. In sicherer Entfernung stellte er sie zu Boden.
Erst jetzt sah Paulsen worauf Degel hingewiesen hatte. Auch die Männer mussten es bemerkt haben, da es schlagartig still wurde. Was hatte der Junge gesagt? Ihr habt es verletzt. Die Wurzel war doch abgestorben, dachte Paulsen. Mit einem Mal war er sich nicht mehr so sicher. Er starrte auf das Loch, das Dittrich in die Wurzel geschlagen hatte. Ein dunkelbrauner, glänzender Saft quoll daraus hervor.
»Erdöl?«, murmelte jemand.
»Nein«, fauchte Grieg. »Geht mal zur Seite.« Er bückte sich, senkte die Nase zu der schwarzen Lache, die träge im Boden versickerte. Kleine Blasen traten hervor und zerplatzten. »Geruchlos. Weder Teer, Harz oder Öl.«
Paulsen hockte sich neben ihn und brach ein Stück vom Rand der geborstenen Wurzel ab. Das Teil hatte eine knorpelige Außenhaut und an der Innenseite feine Härchen, verklebt von der zähen Flüssigkeit. »Eine Leitung? Ein Schlauch? Ein Rohr?«
Wieder schüttelte Grieg den Kopf. »Degel hat Recht, es lebt. Sieht aus wie … Hautl« Er tauchte den Finger in die Wunde der Wurzel und zerrieb die Flüssigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger. »Und das hier drin fühlt sich an wie Schmiere.«
»Zäher Wurzelsaft«, murmelte einer der Arbeiter.
»Blut!«, sagte ein anderer.
Schlagartig riefen die Männer durcheinander. Jemand müsse den Betriebsleiter holen, sie müssten einen Teil der Wurzel nach oben schaffen oder gar Erich Göttmann, den deutschen Schürfungs-Kommissär, verständigen. War er ausgerechnet dieser Wurzel wegen von Berlin angereist? Die Spekulationen wurden immer fantastischer. Bergwerkergarn aus über drei Jahrzehnten kam wieder zutage und spukte in den Köpfen der Männer herum. Einzig Paulsen, Grieg, Dittrich und Karmann behielten kühlen Kopf. Sie hockten im Kreis um die Wurzel und beratschlagten, ob sie das Teil vollständig ausgraben, weghacken oder besser zuschütten sollten. Jedenfalls waren sie sich einig, dass der Betriebsleiter informiert werden sollte. Dittrich nahm die Brille ab und putzte sie am Stoff seiner Jacke. »Notfalls soll er selbst in die Grube fahren und sich das ansehen«, schlug er vor.
»In Ordnung!« Paulsen klopfte Grieg auf die Schulter.
Der Alte erhob sich und steckte die Hände in die Taschen. »Ruhe!«, rief er. »Wir machen folgendes: Degel fährt rauf und erzählt dem Betriebsleiter hiervon.«
Degel gehorchte sofort und sprang über die Wurzel hinweg.
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