Der Judas-Schrein
sechsundfünfzigjahren. Sie holte eine zweite Meinung von einem anderen Gynäkologen ein. Durch den ersten Abstrich war jedoch die krankhafte Schicht abgewischt worden. Die Zweituntersuchung brachte ein negatives Ergebnis.
Mutter war ein unverbesserlicher Optimist, natürlich vertraute sie der zweiten Untersuchung mehr. Sie glaubte sich gesund, sprach mit niemandem darüber … und verlor wertvolle Zeit.« Sie biss sich auf die Lippen. »Sie hätte mir davon erzählen sollen! Als die Schmerzen begannen, kam die Behandlung zu spät. Das war in diesem Sommer.«
»Tut mir Leid«, brachte er hervor.
»Danke.« Sie lächelte. »Mutter war von dir fasziniert.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ich glaube fast, sie war ein wenig in dich vernarrt, weil du trotz deines Kampfsport-Getues, wie sie es nannte, doch leidenschaftlich kochtest, leckere Fondue-Soßen machen und fantastische Raclettes herzaubern konntest.« Sie schwieg und ihr Blick verlor sich, als erinnere sie sich an ihre gemeinsame Zeit.
Um den Hals trug sie ein Lederband mit einem verformten Projektil. Nachdenklich ließ sie den Anhänger durch die Finger gleiten.
Er kannte das Stück. Er war ihr Glücksbringer. Die Kugel hatte die Brust eines Mannes durchschlagen und war im Rückgrat stecken geblieben. Sabriski hatte es während einer ihrer ersten Obduktionen aus dem Leichnam entfernt.
Er griff nach ihrem Talisman. »Du hast einen morbiden Geschmack.«
»Sonst wäre ich jetzt nicht mit dir zusammen.«
Er kniff ihr in die Pobacke, sie kicherte. »Hat dir das Ding jemals geholfen?«, fragte er.
»Bisher musste es das nicht, aber ein Aberglaube besagt, dass ein Gegenstand, der einmal den Tod gebracht hat, in Zukunft davor schützt.«
Im Endeffekt schützt nichts vor dem Tod, dachte er. Mühselig drehte er sich in dem schmalen Bett herum und starrte auf seine Dienstwaffe. Die Glock 17 steckte im zusammengerollten Schulterholster auf dem Nachttisch, der schwarze Griff mit der Riffelung ragte hervor. Daneben stand das Reservemagazin mit den 17 Patronen. Sein Blick fiel auf die Zeichnung der Reporterin, die unter dem Holster lag. Sabine Krajnik mit den ausgebreiteten Armen und dem aufgerissenen Mund.
»Was wollte mir Basedov am Telefon sagen?«, murmelte er. »Du musst dich nicht beeilen, ich möchte mir vorher noch den … was hat er vorgehabt?«
Während er darüber nachdachte, fielen ihm die Augen zu.
Merkwürdige Träume plagten ihn, die jenen der gestrigen Nacht nicht unähnlich waren. Doch diesmal waren sie nicht so real und er wusste, dass er träumte … sein Problem war, nicht daraus erwachen zu können und zusehen zu müssen wie sein Unterbewusstsein sämtliche Erlebnisse der letzten Tage zu einem bizarren Brei vermengte. Er stand im Regen auf der Treppe des Kirchbergs den Dorfbewohnern gegenüber. Der Rücken von Doktor Weber war wie bei einer scheußlichen Witzfigur verkrümmt, Hermann Goissers Hand nur noch ein verwachsener Klumpen, und der junge Martin lachte irre, während er mit Eisenstangen zu Tode geprügelt wurde. Hinter Körner brannte die Kirche lichterloh, er hörte das Prasseln, aus den Flammen drang die Stimme seiner Mutter zu ihm … und in weiter Ferne streunte der tote Hund mit dem zerfetzten Rumpf zwischen den Häuserreihen. Die Eingeweide hingen dem Tier meterlang aus dem Körper und verschwanden im Nebel.
Endlich fuhr er schweißgebadet hoch. Sein Atem flog. Die Leuchtziffern seiner Uhr zeigten fünfzehn Minuten nach zwei. Es war dämmerig im Zimmer. Draußen schien die Straßenbeleuchtung wieder zu funktionieren, denn ein Schimmer leuchtete durch den Vorhang. Leise drehte er sich im Bett herum. Sabriski lag neben ihm auf dem Bauch, sie atmete ruhig. Ihre Schulter hob und senkte sich unter dem Laken, ihr Arm und ein Fuß hingen über den Bettrand hinaus. Trotz der Enge schlief sie wie ein Baby. Gewiss hatte sie keine Albträume, so wie er. Körner berührte ihre Hüfte. Es war wie früher, und sie war ihm so nahe. Ihr Körper unter dem Laken fühlte sich warm an. Innerhalb der letzten Jahre hatte ihm etwas gefehlt, doch war er nicht dahinter gekommen, was es gewesen war. Eine Frau bestimmt nicht, denn er hatte von Zeit zu Zeit eine gehabt. Es war nicht bloß irgendeine Frau, es war eine Bestimmte, die ihm fehlte: Jana! Ihre Wärme, ihre Haut, ihr Lachen, die Art, wie sie sich die Haare hinter das Ohr strich, wie sie an den Fingernägeln oder ihren Haarspitzen kaute, wenn sie sich unsicher war und wie sie ihn anblickte,
Weitere Kostenlose Bücher