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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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die Stromleitung möge noch eine Viertelstunde halten und nicht irgendwo abreißen, denn dann blieb nur noch die Möglichkeit, die Kabine mit der Handwinde raufzuholen.
    Die Erde rieselte Paulsen auf die Schultern und in den Kragen. Er schob seine beiden Kumpel vor sich her. Sie hatten nur noch Griegs und seine eigene Lampe. Das musste genügen, bis zum Bergeaufzug waren es nur noch achthundert Meter. Einige Benzingaslampen, die in Abständen von jeweils fünf Metern an der Decke schwangen, sollten zusätzliches Licht spenden - doch die meisten lagen bereits zerschmettert auf dem Boden. Stellenweise verzehrten Flammen das ausdringende Gas. Paulsen kümmerte sich nicht darum. Ein Brand war im Moment ihre geringste Sorge. Sie kamen zu der Abzweigung, von der rechts der Schrägstollen in den Berg führte, in dem seine Männer von der Vormittagsschicht seit sieben Uhr früh Gleise verlegten. Mittlerweile hatten sie bestimmt alles liegen und stehen lassen und waren zum Bergeaufzug gestürzt. Sicherheitshalber brüllte Paulsen in den Gang: »Mann im Stollen?«
    Keine Antwort. Paulsen leuchtete in die Dunkelheit. In dem Tunnel hing eine dünne Staubschicht in der Luft, die den Schein reflektierte. Kein gutes Zeichen. Paulsen lief in den Gang. Da packte ihn Grieg an der Schulter und versuchte ihn aufzuhalten.
    Paulsen schüttelte die Hand ab.
    »Du Idiot!«, fluchte der alte Grieg. »Ich hab schon einmal einen Kumpel im Berg zurückgelassen. Ein zweites Mal passiert mir das nicht, hast du gehört? Du kommst auf der Stelle zurück!«
    Paulsen schluckte. Zweifellos spielte Grieg auf seinen Vater an. Unfälle waren während der letzten Jahrzehnte im Berg genügend passiert, doch bis heute war nur ein einziger Mann verschüttet worden: Paulsens Vater! Bei dem Unglück war Grieg selbst nur knapp dem Tod entronnen. An jenem Abend hatte Grieg an die Haustür der Paulsens geklopft, sich in deren Küche gesetzt und dem Jungen und seiner Mutter von dem Unfall erzählt. Damals war Paulsen zehn Jahre alt gewesen, und Grieg hatte gemeint, der Bub sei erwachsen genug, um alles zu erfahren. Schonungslos hatte ihm der Alte über den heimtückischen Teufelsberg erzählt. Bisher war Paulsen immer der Meinung gewesen, alles über die Katastrophe erfahren zu haben, doch wie es schien, wusste er nicht einmal die Hälfte. Warum hatte Grieg seinen Vater im Stollen zurücklassen müssen?
    Da tönte Karmanns Stimme vom Ende des Hauptstollens, wo der Bergeaufzug den Schacht hinaufführte. »Alle Kumpel bei der Mannsfahrt. Ihr drei seid die Letzten.«
    »Steht die Stromverbindung?«, rief Paulsen.
    »Ja, beeilt euch«, drängte Karmann.
    Er hörte, wie ihnen der Vorarbeiter entgegenlief. Hinter der Biegung des Stollens tanzte Karmanns Grubenlicht auf und ab und warf einen Schimmer auf die Holzkonstruktion, die den Trakt stützte. Paulsen, Dittrich und Grieg liefen darauf zu.
    »Der Schrägstollen ist in einer Länge von fünfundzwanzig Metern eingebrochen«, keuchte Karmann. »Deine Arbeiterpartie konnte sich gerade noch retten, keine Verletzten. Oben wartet die Gruppenwehr auf uns.«
    Paulsen atmete auf. Der Segen-Gottes-Schacht trug seinen Namen zu Recht. Sie würden es schaffen, es trennten sie nur noch an die dreihundert Meter vom Hauptschacht. Plötzlich wurden sie von einer neuerlichen Eruption von den Füßen gerissen. Paulsen taumelte zurück und stieß sich den Kopf am Balken. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen.
    »Weiter!«, krächzte Grieg.
    Aus dem Augenwinkel sah Paulsen, wie sein Kumpel auf allen Vieren über den Boden kroch. Hinter ihm drang aus der Abzweigung des Schrägstollens das Knarren der Holzverstrebungen. Es klang wie das Donnern eines fernen Gewitters. Da krachte das Gebälk unmittelbar über ihren Köpfen, als habe es der Blitz getroffen. Für einen Moment war Paulsen taub. Vor ihnen ging eine Wand nieder. Wären sie nicht gestolpert sondern weitergelaufen, hätten die Trümmer sie unter sich begraben.
    Ein Türstockbau nach dem anderen brach ein, die Zimmerung wurde in Splitter gerissen und wie Zahnstocher unter einer Walze zerdrückt. Tonnen von Erde und Gestein brachen durch, häuften sich immer weiter auf und wurden bis vor Paulsens Schuhe geschüttet. Griegs Arme versanken bis zu den Ellenbogen im Geröll.
    Augenblicklich wurde es still. Eine aufwirbelnde Staubwolke hüllte sie ein. Paulsen hustete, er schmeckte die Erde und spürte das körnige, fein gemahlene Gestein auf den Lippen. Der Staub brannte ihm in

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