Der Judas-Schrein
den Augen und in der Lunge. »Gottverflucht!« Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er hörte, wie Grieg die Arme aus dem Schutt befreite.
Der Alte setzte sich an Paulsens Seite. »Unterschätze niemals den Berg. So lange du keine frische Luft atmest, stehst du permanent mit einem Fuß im Grab.«
»Verschone mich mit deiner Weisheit.« Dittrich nahm die Brille ab und blies den Staub von den Gläsern.
»Sei still!«, fuhr ihn Paulsen an. »Hättest du deine Lampe nicht in die Felsspalte geworfen, wären wir längst draußen.«
Sanft legte ihm Grieg die Hand auf die Schulter. »Muss nicht sein. Vielleicht hat es Karmann ärger erwischt. Möglicherweise sind die Kumpel im Bergeaufzug abgestürzt oder noch schlimmer … von den Steinmassen zerdrückt worden. Wir wissen es nicht. Ich weiß nur, wir haben Luft zum Atmen, das ist im Moment das Wichtigste.«
Paulsen ließ die Schultern sinken. »Wenigstens hält die Decke.«
»Ich glaube nicht, dass es an der Decke liegt. Das Problem ist unteruns«, murrte Grieg. »Erinnert euch an die Erdspalte. Unter uns hat sich ein Hohlraum aufgetan, die seitliche Begrenzung des Stollens ist abgesackt und eingestürzt. Die von oben nachdrängenden Massen haben die Türstöcke eingedrückt. So etwas habe ich noch nie erlebt, aber es soll vorkommen.«
»Ist es jetzt vorbei?«
»Vorbei?« Grieg schüttelte verdrießlich den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sich der Berg so schnell beruhigt. Ziemlich wahrscheinlich, dass der Grubenbau weiter einstürzt. Ich nehme euch nur ungern die Hoffnung, aber es kann sein, dass wir vier, fünf Tage oder länger hier unten aushalten müssen.«
Dittrich warf Paulsen einen besorgten Blick zu. »Großartig!«
Paulsen schwieg. Er hatte etwas in der Art befürchtet, aber es nicht wahrhaben wollen. Es konnte eine Woche dauern, bis die Kumpel den Stollen gesichert und das Geröll zur Seite geschafft hatten. Allerdings würde jeder neue Einbruch das Problem verschlimmern. Ein angeschlagener Berg war so unberechenbar wie ein verletztes, in die Enge getriebenes Tier.
Anscheinend hatte Grieg bemerkt, wie blass Dittrich geworden war. »Kopf hoch, Junge. Im Moment haben wir noch eine atembare, saubere Luft. Das ist das Wichtigste.« Grieg erhob sich, um an der nächsten Benzingaslampe den Sauerstoffgehalt der Luft zu messen. »Hauptsache es mischt sich kein Methangas dazu. Hätten wir dann auch noch Kohlenstaub in der Luft, wären wir am Arsch!«
Als sich der Staub legte, gewannen sie eine Sicht von drei bis vier Metern. Der Einbruch sah aus, als habe ein Lastwagen Tonnen von Geröll in den Stollen gekippt. Aus den Krumen ragten die Splitter des Gebälks wie Lanzen eines Verteidigungswalls. Stellenweise rutschte die Erdschicht von der Decke nach und rieselte über den Erdhaufen.
Paulsen inspizierte den Grubenventilator. Die Zuleitung zu dem Gerät verschwand unter dem Geröll, der Apparat gab keinen Mucks von sich. Übertag stand die Kesselanlage, die den Hauptschacht mit dem nötigen Luftzug versorgte, doch ohne Strom gab es keine Frischluft. Sie mussten mit dem Sauerstoff haushalten, der ihnen im Stollen zur Verfügung stand.
Scheinbar hatte Grieg den gleichen Gedanken, denn er löschte die Benzingaslampe, die von der Decke hing. »Eine Gaslampe und zwei Handlampen reichen.«
Dittrich erhob sich ebenfalls. »Schauen wir uns die Misere an.«
Sie machten sich auf den Weg und inspizierten die Gänge. Grieg und Dittrich nahmen die Abzweigung in den Schrägstollen, wohingegen Paulsen den geraden Weg des Hauptstollens einschlug, der ihn bis an jene Stelle führte, wo sie die Wurzel entdeckt hatten. Die beiden Trakte gaben das Bild eines großen Ypsilons, in dem sie gefangen waren. Höchstens 600 Meter Tunnel, länger waren die Wege nicht.
Paulsen marschierte entlang der Grubenschienen, die durch Keile an den Holzschwellen befestigt waren. Auf den Gleisen stand die Garnitur aus einer fahrbaren Rutsche, einem Kipp- und zwei Holztransportwagen. Paulsen schob sich daran vorbei, behielt jedoch die Decke im Blick. Die Holzkonstruktion des Stollens hatte bis zum Ende des Tunnels gehalten.
Als Paulsen unmittelbar vor der Erdspalte stand, starrte er in die Dunkelheit. Der Riss war nicht weiter aufgeklafft. Unwillkürlich musste er an Dittrichs Worte denken. Ich habe etwas gesehen. Da unten hat sich was bewegt! Er schüttelte den Gedanken ab, solche Hirngespinste konnte er sich jetzt nicht leisten. Schlimm genug, dass den Männern altes Bergwerkergarn durch
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