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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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standhalten können - und ein Ende des Wasseranstiegs war nicht abzusehen. Auf einer Strecke von zwei Kilometern türmten sich gewiss eine Million Sandsäcke. Die Sandbarriere am Deich war inzwischen so braun wie das schlammige Wasser der Trier. In der derzeitigen Situation genügte ein einziger Spatenstich an der falschen Stelle, und der gesamte Damm würde dem Wasserdruck nachgeben, sich verschieben, kilometerlange Risse bekommen und wie eine Papierwand umfallen. In Sekundenschnelle würde die Flut den Deich und sämtliche Schutzwälle durchbrechen.
    Mittlerweile patrouillierten keine Feuerwehrleute mehr auf der Deichkrone. Jeder zusätzliche Sandsack war in der Lage, den Aufbau zum Einsturz zu bringen. Sobald Körner den Kopf hob, sah er, wie das Wasser über den Wall schwappte. Eine aus der Flut ragende Latte zeigte einen Pegelhöchststand von acht Meter vierzig. Die Trier hatte über Nacht gigantische Ausmaße angenommen. Wie es schien, waren die Schleusen des Trieracher Staudamms stundenlang geöffnet worden. Womöglich hatte das Unwetter im Spoisdorfer Chemiewerk bereits zu einer Katastrophe geführt.
    »Ein Riss im Damm!«
    Körner duckte sich. Zwei Feuerwehrmänner mit gelben Helmen und blauen Uniformen rannten an ihm vorbei. Sie waren zu beschäftigt, um die kauernde Gestalt im Unterholz auszumachen. Dutzende LKW fuhren im Schritttempo an Körner vorbei. Wenige Meter von ihm entfernt luden sie Tonnen von Schotter und Bauschutt ab, um die Löcher im Deich zu schließen, aus denen das Wasser quoll.
    »Sickerstelle an Punkt Einundachtzig! Wir brauchen mehr Gegengewicht an der Böschung«, brüllte ein Mann in ein Megafon. Körner kannte sein Gesicht aus dem Braunen Fünfender.
    Ständig kamen neue Lastwagen, die Bauschutt vom Heidenhofer Kieswerk heranfuhren. Wie Besessene versuchten die Einwohner in einem aussichtslosen Wettlauf, den angeschlagenen Deich zu schließen. Wo ein Loch abgedichtet wurde, brachen zwei neue auf. Jetzt kannte Körner den Grund, weshalb ihn niemand vor dem Bergwerksausgang erwartet hatte. Die Dorfleute schlugen sich mit anderen Problemen herum - dabei wurde im Moment jeder einzelne Helfer beim Deich benötigt.
    Bloß ein einziger Mann wagte es, regungslos mit ausgebreiteten Armen auf der Deichkrone zu stehen, den Blick auf das braune Wasser gerichtet, inmitten von Moder und faulem Fischgestank.
    »Zehn Tage Urgewalt, von übermächtiger Hand gelenkt!«, rief Pater Sahms. »Das ist die Rache, unser Fluch, Gottes Abrechnung, doch wir werden unser Schicksal selbst bestimmen!«
    Körner lief ein Schauer über den Rücken. Pater Sahms! Gottes Abrechnung! Mit einem Mal ahnte er, weshalb die Menschen im Ort blieben und nicht evakuiert werden wollten. Die Idee klang verrückt, trotzdem musste es so sein: Den Greinern und Heidenhofern ging es gar nicht darum, ihre Häuser, ihre Autos, all ihr Hab und Gut zu retten - sondern das Gezücht! Sie wollten die Wesen, welche hinter ihren Wänden lebten, vor dem Chlor und Cadmium des Chemiewerks schützen. Körner erinnerte sich an Weißmanns Worte, als er ihn mitten in der Nacht auf dem Dorfplatz beinahe umgerannt hatte. Wir bekommen ein zusätzliches Problem im Ort: eine mögliche Chemie-Verseuchung! Wenn die Giftstoffe erst mal in den Fluss gelangt sind, und die Schleusen werden geöffnet, wird es düster…
    Ja, das wurde es tatsächlich! Sogar durch die Wassermassen verdünntes Chlor konnte hochgefährlich sein. Körner würde dafür sorgen! Er griff in die Manteltasche nach dem Dynamit. »Ich bin die Sintflut«, presste er zwischen den Zähnen hervor.
    Jede der Dynamitstangen hatte einen Durchmesser von knapp fünf Zentimetern, eine Länge von über dreißig Zentimetern und wog eineinhalb Kilo. Die drei Stangen reichten aus, um den Deich auf einer Länge von mindestens zehn Metern aufzubrechen. Je weiter oben, desto besser. Den Rest erledigte der Wasserdruck. Die Flut würde gigantische Ausmaße erreichen.
    Nachdem Körner die drei Stangen mit dem Klebeband zusammengebunden hatte, grub er die Sprengladung so tief ins Erdreich, dass nur noch ihr Ende herausragte. Anschließend drückte er die Glühstange des Polex-Zünders in die erste Dynamitstange, bis nur noch die beiden Drähte zu sehen waren. Nun kam der zweite Teil seines Plans: Er riss die schwarze Kunststoffabdeckung von einem der beiden Funkgeräte. In dem Gehäuse befanden sich die Batterie, der Lautsprecher, Kabel, Relais, Schaltkreise und die rote Kontrolllampe, welche den Empfang

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