Der Judas-Schrein
Als die Deckenbeleuchtung des Autos ansprang, schloss Körner für einen Moment geblendet die Augen. Er beugte sich ins Wageninnere; die Digitalziffern auf dem Armaturenbrett zeigten 5.03 Uhr. Langsam kehrte Körners Geist aus einem traumhaften Zustand in die Realität zurück. Er fixierte die rote Anzeige. 5.04 Uhr! 5.05 Uhr! Unter dem Display befanden sich die Knöpfe des Autoradios. Im Deck steckte eine CD von Alan Parsons Project. Körner schien es Jahre zurückzuliegen, dass er diese Musik gehört hatte, dabei waren es erst wenige Tage. Alan Parsons Project - The Turn of a Friendly Card kam ihm in diesem Moment so fremd und unreal vor wie alles andere aus seinem früheren Leben. Die Musik passte überhaupt nicht zu diesem Ort aus Tod und Verzweiflung.
Unwillkürlich schaltete Körner das Autoradio ein, doch abgeschirmt im Tunnel empfing er nichts weiter als ein Rauschen. Keine Nachrichten, kein Verkehrsfunk, keine Werbung, kein Radiosprecher! Bevor das Radio automatisch auf CD wechselte, machte er es aus. Er nahm das Tagebuch vom Beifahrersitz, eine Rolle Klebeband aus dem Handschuhfach, stopfte sich beides in die Manteltasche und griff nach den beiden Funkgeräten in der Mittelkonsole, die er noch für seinen Plan benötigte. Bevor er sich aus dem Wageninneren quälte, fiel sein Blick in den Rückspiegel. Gelassen nahm er den Anblick wahr. Sein Gesicht war kaum wieder zu erkennen. Graue Schatten lagen unter den Augen, seine Haut war so fahl wie die eines Toten. Das eingetrocknete Blut auf der Oberlippe, den Wangen und dem Hals wirkte wie zerlaufene Theaterschminke, die ihn geisterhaft aussehen ließ.
Nachdem er die Wagentür geschlossen hatte, ging er zum Kofferraum. Im schwachen Schein der Kofferraumbeleuchtung war das beschlagnahmte Sprengmaterial zu erkennen, das er seit Sonntagabend in seinem Wagen durch die Gegend fuhr, da er vergessen hatte, es bei Dworschak im Spurensicherungsbüro abzuliefern. Kupferdrähte und Polymermäntel glänzten im Licht, daneben lagen Sprengkapseln, Patronen, Innenhütchen, mechanische Zeitzünder, Verzögerer und rote Zündschnüre. Der Geiselnehmer war wie ein Sprengstoffexperte ausgerüstet gewesen. Doch all dies Zeug war wertlos für Körner, mit Ausnahme eines hauchdünnen Polex-Zünders, den er aus dem Verbund zog und in die Manteltasche gleiten ließ. Die winzige elektrische Sprengkapsel mit den zwei Drähten würde als Initialzündung reichen, um den notwendigen Detonationsdruck zu erzeugen - mehr brauchte er nicht.
Diesmal hatten sich die Ortsbewohner mit dem Falschen angelegt.
Als Körner aus dem Bergwerkseingang ins Freie schlüpfte, die kalte Morgenluft inhalierte und den Nieselregen aufsein Gesicht fallen spürte, wurde sein Kopf klarer. Seine Lebensenergie kehrte zurück.
Die Aussicht auf den Ort war getrübt, die Häuser lagen verborgen in Dämmerlicht und Regen. Körner wunderte sich, weshalb keiner der Dorfbewohner an dieser Stelle postiert worden war. Nicht eine Menschenseele bewachte den Platz! Vor ihm lagen die Wellblechhütten, die ausrangierten Kohlewagons, der Friedhof, die Totengräberhütte und der menschenleere Parkplatz. Der Boden war aufgeweicht, eine braune Lache grenzte an die nächste. Alles schien wie ausgestorben. Lediglich am Fuß der Deichkrone tummelten sich Hunderte Menschen. Über den Acker hinweg wirkte die Trier ziemlich nah. An jener Stelle, wo der Fluss eine Biegung machte, standen die meisten Autos und Pritschenwagen. Dort wälzte sich die schlammig-braune Flut mit ungezügelter Wucht stromabwärts. Jenseits der Bundesstraße hatte der Fluss weite Landstriche in eine gigantische Seenlandschaft verwandelt. Wohin das Auge reichte, breitete sich das Hochwasser aus.
Mitten auf dem Feld stand noch immer der Traktor mit dem verrosteten Anhänger. Körner schätzte, dass er fünfzehn Minuten zum Deich brauchen würde. Niemand bemerkte ihn, als er über den Acker auf den Traktor zulief. Minuten später warf er sich unmittelbar am Fuße des Deichwalls auf den Bauch und robbte in den Schutz herunterhängender Weidenäste. Das Gesicht und die Hände mit Schlamm und Laub bedeckt, verschmolz er mit seiner Umgebung aus Bäumen und Sträuchern. Die Erde war so nachgiebig, dass er mit den Ellenbogen zentimetertief einsank. Der Deich war ebenso durchweicht. Seit acht Tagen dem Toben des Wassers ausgesetzt, stand er wie ein Wackelpudding unter ständiger Schwingung. Körner wunderte sich, wie der Wall so lange gegen die Flut der Trier hatte
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