Der Judas-Schrein
er damit die Schwäche seines Vaters wettzumachen?
»Sie lassen sich nicht oft hier blicken. Eigentlich nie, um genau zu sein. Der alte Apfler pflegt das Grab Ihrer Eltern«, stellte der Bürgermeister fest.
Der nächste Seitenhieb, wie beiläufig ausgesprochen, klang erneut wie eine Anschuldigung. Körner schwieg. Er war nicht hier, um alte Fehden weiterzuführen.
»Wie mir zu Ohren kam, haben Sie Karriere bei der Kriminalpolizei gemacht. Weshalb sind Sie nicht in die Fußstapfen Ihres Vaters getreten? War das Baugewerbe zu hart für Sie?«
»Wir sind hier, um mit Sabine Krajniks Eltern zu sprechen.« Körner bemühte sich um einen sachlichen Ton. Er würde sich von Weißmann zu keinem emotionalen Ausbruch hinreißen lassen.
Der Bürgermeister machte einen Schritt die Treppe hinunter. »Ich gebe Ihnen und Ihrer Kollegin einen Rat: Lassen Sie die Eltern in Ruhe, das sind anständige Leute. Ihr Zirkus, den sie am Hauptplatz veranstalten, macht die Kleine nicht lebendig.«
Körner merkte, wie seine Kollegin neben ihm unruhig von einem Bein aufs andere stieg. Mit derartigen Aussagen waren sie bisher schon einige Male konfrontiert worden. Er berührte sie sacht am Arm, damit sie schwieg. »Ich bin nicht hier, um das Mädchen wieder lebendig zu machen, aber sie wurde von ihren Eltern vierzehn Jahre lang aufgezogen. Eines Tages hätte sie vielleicht selbst eine Familie gegründet und Kinder bekommen. Sie haben einen Mörder im Ort, und ich werde ihn finden.«
Furchen traten auf Weißmanns Stirn, und es war unschwer zu erkennen, was sich in seinem Kopf abspielte. Als Bürgermeister einer kleinen Gemeinde hatte er gelernt, sich mit Kompromissen und schwammigen Zusagen durchzumogeln und es jenen Personen Recht zu machen, die in Grein das Sagen hatten. Er war der Typ, der alles Unangenehme im Ort so rasch wie möglich unter den Teppich kehrte und es gar nicht abwarten konnte, bis alle Gendarmen, Kriminalpolizisten, Spurensucher, Fotografen, Reporter und Gerichtsmediziner aus dem Ort verschwunden waren. Am nächsten Tag würde Gras über die Sache gewachsen sein, alle würden schweigend zur Tagesordnung übergehen und kein Wort darüber verlieren, so, als sei der Mord nie geschehen. So lief das in Orten wie diesem. Aber Körner musste den Mord aufklären, und zwar so rasch als möglich, denn auch er wollte aus diesem Kaff verschwinden. Jede zusätzliche Stunde wühlte in seinem Unterbewusstsein und förderte Erinnerungen zu Tage, die besser verborgen blieben. Er wollte sie wieder vergraben und zuschütten. So lange Jahre hatte es funktioniert, dieser eine Tag durfte nicht alles ruinieren.
»Übertreiben Sie es nicht, Körner.« Mit diesen Worten schritt der Bürgermeister an ihnen vorüber, spannte den Schirm auf und trottete die Straße zum Hauptplatz hinauf.
Es hatte wieder zu nieseln begonnen. Berger machte keine Anstalten, unter dem Vordach Schutz zu suchen. Sie stand im Regen und sah dem Bürgermeister nach. »Netter Kerl.«
»Ein Arschloch!«
»So kann man es auch formulieren.« Sie nickte. »Ich hätte mir von ihm sowieso keine großartige Unterstützung bei den Ermittlungen erwartet, doch nun habe ich den Eindruck, er wird gegen uns arbeiten. Das verstehe ich nicht. Es muss doch auch in seinem Interesse liegen, den Mörder zu fassen.«
»Interesse!« Körner lachte sarkastisch. »Kein Bürgermeister mag es, wenn Fremde in den Dorfangelegenheiten zu schnüffeln beginnen. Wer weiß, was da ans Tageslicht gebracht werden könnte?«
»Er mag Sie nicht besonders, habe ich Recht?«
»Wir werden noch mehr Leute von dieser Sorte kennen lernen.« Körner ging die Stufen zur Eingangstür hinauf. Der Schuhabstreifer war genauso abgenutzt wie das Mauerwerk, der Türrahmen und die vernagelten Fensterläden des Hauses. Er betätigte die Klingel. »Übernehmen Sie das Reden«, bat er. »Sie können mit Menschen besser umgehen.«
Das Haus machte von innen einen noch schäbigeren Eindruck als von außen. Im Vorraum roch es nach Blut und Schweinefleisch, offensichtlich führte der Durchgang zum angrenzenden Schlachthof. Der Linoleumboden bog sich an den Seiten auf, und einige Glühbirnen im Vorraum funktionierten nicht. Die Möbel waren bestimmt so alt wie das Haus selbst, und auf den geblümten Tapeten zeichneten sich braune Ränder ab, die von Hochwasser und Überschwemmungen zeugten.
Körner und seine Kollegin standen mit Sabines Eltern in der Küche. In dem Raum hing eine dunstige Hitze: Es roch nach Zwiebeln,
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