Der Judas-Schrein
Berger wollte die Stufen zur Eingangstür nehmen, als diese von innen aufgestoßen wurde. Ein kräftiger, groß gebauter Mann stand im Türrahmen. Er wandte ihnen den Rücken zu, während er mit jemandem im Vorraum sprach.
Berger zupfte Körner am Mantel. »Ist das Sabines Vater?«, flüsterte sie.
»Nein, der Bürgermeister.« Ihm stockte der Atem. »Meine Güte ist der alt geworden.«
Die Eingangstür fiel ins Schloss und der Bürgermeister der beiden Gemeinden Grein und Heidenhof drehte sich unter dem Vordach zu ihnen um. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und musterte sie von oben herab. Während er im Trockenen stand, peitschte der Wind Körner und seiner Kollegin aus der Dachrinne das Regenwasser ins Gesicht. Eine ungünstigere Situation für ein Wiedersehen hätte es wohl kaum geben können. Körner liebte solche Zufälle.
»Doktor Weißmann. Noch immer in Amt und Würden?« Körner vergrub ebenfalls die Hände in den Taschen und blickte zu dem großen Mann empor.
Der Bürgermeister sagte nichts. Scheinbar überlegte er, welcher Schublade er Körner zuordnen solle. Auf seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen, nichts, was man hätte deuten können. Dr. Heinrich Weißmanns Haut wies eine ungesunde Solariumsbräune auf, die nicht zu seinem Alter passte, da seine buschigen Augenbrauen genauso ergraut, nahezu weiß waren, wie der Haarkranz und der schmale Bart, der sein rundes Gesicht umrahmte. Mit diesem Auftreten hätte er über Renten- und Investmentfonds an der Universität dozieren können. Wie Heinrich Weißmann tatsächlich zu seinem Doktortitel gekommen war, wusste Körner nicht. Jedenfalls war er einer der wenigen Akademiker Greins und deshalb schon seit jeher Bürgermeister der Marktgemeinde. So weit Körner sich erinnerte, machte Weißmann seine Arbeit nicht übel, denn im Ort hatte jeder Respekt vor ihm, und das dürfte sich bis heute nicht geändert haben. Außerdem gab es in Grein bestimmt nicht viele brauchbare Kandidaten für dieses Amt.
»Der Sohn der Gstettner Lisi«, stellte der Bürgermeister schließlich mit sonorer Stimme fest. Für einen Außenstehenden musste es eine Spur geringschätzig geklungen haben. Körner wusste, es war geringschätzig. Zudem war es eine alte Sitte der Dorfbewohner, Namen zu verstümmeln. Und das hasste er! Aus Josef wurde Peppi, aus Johann Hansi, und aus Magdalena Leni.
»Meine Mutter hieß Elisabeth Körner«, brachte er hervor. Gstettner war ihr Mädchenname gewesen, und den Dorfbewohnern würde sie ewig als Gstettner Lisi in Erinnerung bleiben.
»Ja, ich erinnere mich dunkel, sie hat den Wiener geheiratet, diesen Körner.« Der Bürgermeister wedelte mit dem Arm.
Diesen Körner! Er ballte die Hand zur Faust. Weißmann beherrschte es perfekt, in seiner herablassenden Art nur wenige Worte zu sagen, bei denen man die Wände hochgehen konnte. Dieser Körner war immerhin sein Vater, auch wenn seiner Mutter nachgesagt worden war, sie habe ein Verhältnis mit einem um viele Jahre jüngeren Burschen aus dem Ort gehabt. Am Stammtisch zerriss man sich damals das Maul darüber. Dieses Gerede blieb selbst einem Vierzehnjährigen nicht verborgen. Irgendjemand war immer das Gespött der Schule, manchmal Wolfgang Heck und manchmal eben der schmächtige Alexander Körner. In der Klasse und am Schulhof wurde viel über ihn getratscht, und meist über seine Mutter gelästert. Die Schüler der Oberstufe ließen nichts aus, und Schlampe war noch das harmloseste Wort, das in den Raucherecken fiel. Immer wieder schnappte er die verschiedensten Gerüchte auf, und eines Tages glaubte er sie selbst - und plötzlich passte alles wunderbar zusammen: Ständig hockten Bauern, Wildhüter und die Männer der Freiwilligen Feuerwehr bei ihnen zu Hause auf der Küchenbank und tranken einen Schnaps um den anderen, während seine Mutter Marmelade kochte, das Wild der Jäger tranchierte und im Keller einfror. Sie ging nie zur Arbeit und war ständig zu Hause. Sein Vater war todunglücklich über dieses Leben, doch ohne die Kraft, es zu ändern. Er arbeitete als Bauleiter für die Gemeinde in Neunkirchen. Auch er, der Herr Ingenieur aus Wien, war manchmal das Gespött des Ortes, doch dabei ruhig und introvertiert, und so ließ er das Gerede über sich ergehen. Körner hätte sich einen stärkeren Vater gewünscht. Für einen Moment kam ihm ein merkwürdiger Gedanke. War das der Grund gewesen, weshalb er sich nach seinem Militärdienst bei der Kriminalpolizei gemeldet hatte? Suchte
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