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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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dem Vordach hingen bunte Lampions, die allerdings der Wind zerfetzt hatte. Einzig der Müllabladeplatz und der Tierkörperverwertungscontainer, der wegen des Hochwassers aufgestellt worden war, zerstörten das idyllische Bild vom Dorfende. Zwei Gemeindearbeiter in gelben Overalls luden tote Rehe und Hasen, die sie vermutlich aus den Fluten der Trier gefischt hatten, von der Ladefläche eines Pritschenwagens und hievten sie in den Container. Von den Kadavern wehte ein übler Geruch zu Körner. Er rümpfte die Nase. Als sie die Straße überquerten, kam bereits der nächste Pritschenwagen mit Nachschub angefahren.
    Der Warteraum der Praxis war voll. Dutzende Frauen und Kinder saßen dicht gedrängt auf Stühlen oder standen vor dem Anmeldeschalter. Verhaltenes Murmeln lag im Raum. Aus den Regenmänteln drang ein muffiger, feuchter Geruch. Die Körper dampften förmlich, die Scheiben waren beschlagen.
    »Ich fürchte, wir kommen ungelegen«, flüsterte Berger.
    »Wollen Sie einen Termin für nächste Woche ausmachen?«, raunte Körner. Er drängte sich an den wartenden Menschen vorbei, zückte die Dienstmarke und hielt sie der Sprechstundenhilfe vor die Nase. »Guten Morgen. Wo finde ich Doktor Weber?« Er wartete keine Antwort ab, sondern öffnete die Tür neben dem Anmeldeschalter.
    »Aber …« Die Frau schnellte vom Stuhl.
    »Danke, ich sehe ihn schon.« Am Ende des Gangs lag ein Raum, dessen Tür angelehnt war. Aus dem Zimmer hörte Körner die Stimme des Arztes. Berger folgte ihm. Kurz darauf standen sie im Türrahmen und sahen Doktor Weber an seinem Spechzimmerschreibtisch mit der Hand im Tischkalender blättern, den Telefonhörer zwischen Wange und Schulter geklemmt.
    »Schicken Sie Ihre Leute vorbei. Heute und morgen gebe ich in meiner Praxis Tetanus-Auffrischungsimpfungen.« Der Arzt lauschte in den Hörer.
    »Nein natürlich nicht, die sind gratis … weshalb?« Er lachte zynisch. »Haben Sie eine Ahnung, wie es hier aussieht? Die Männer arbeiten in überfluteten Kanälen und überschwemmten Kläranlagen, die Trinkwasseranlagen sind verschlammt, Tierkadaver schwimmen im Wasser, Umweltgifte wohin man schaut. Das Wasser in den Brunnen ist verunreinigt. Sie können sich ausrechnen, dass das Risiko einer Tetanusinfektion ungleich höher ist!«
    Er hielt die Sprechmuschel zu. »Idiot!«, murmelte er. Dann fuhr er fort: »Ja, ja, warten Sie nur ab, bis die ersten toten Fische im Schlamm stecken oder aus dem Flussbett geschwemmt werden. Wir können die Tierleichen erst finden und entsorgen, wenn sich der Verwesungsgeruch bemerkbar macht, aber dann ist es zu spät. Zwei Tagen später müssen wir die verseuchten Brunnen desinfizieren und auspumpen … gut, um vierzehn Uhr, wir warten.«
    Er knallte den Hörer auf und rief durch die Praxis zu seiner Sprechstundenhilfe. »Zwanzig Helfer vom Roten Kreuz kommen heute Nachmittag zur Impfung.« Ein überfordertes Stöhnen war die Antwort.
    Der Arzt wandte sich Körner zu. »Was kann ich für Sie tun?« Weber hatte die gleiche zerzauste Frisur und denselben barschen Ton wie am Vortag. Das von Akne vernarbte Gesicht passte zu seiner ungeschliffenen Art.
    Körner betrat das winzige Sprechzimmer. In den Glasvitrinen stapelten sich Bücher und Loseblatt-Ordner, und auf dem Schreibtisch summte ein Monitor, auf dem Körner die Eingabemaske einer Datenbank zu erkennen glaubte. »Wir haben einige Fragen.«
    »Großartig! Hätten Sie mir die nicht gestern stellen können? Wie Sie sehen, ist mein Wartezimmer voll.« Der Arzt quälte sich aus dem Stuhl und ging um den Schreibtisch herum. Beim Wasserspender an der Wand füllte er sich einen Pappbecher und trank.
    Körners Mund klappte auf. Der Doktor war mit der schlimmsten Rückgratverkrümmung gestraft, die er je gesehen hatte. Gestern, als der Arzt im Krankenwagen gesessen und mit ihm gesprochen hatte, war ihm das gar nicht aufgefallen. Doch jetzt stand der Mann vor ihm. Die Verkrümmung erinnerte ihn an den Rippenbuckel einer Hyäne. Dazu kam der deformierte Brustkorb, der unter dem weißen Kittel deutlich zu erkennen war.
    Weber warf den leeren Becher in den Mülleimer und richtete sich auf. Körner fürchtete, jeden Moment die Wirbel brechen zu hören. Der Arzt sah ihn missmutig an und massierte sich die Schläfen. »Ich habe Kopfschmerzen. Bringen wir es hinter uns. Was wollen Sie?«
    »Sie haben die Totenscheine der Krajnikgeschwister ausgestellt«, begann Körner.
    »Von Sabine Krajnik«, korrigierte ihn der Arzt.
    »Ich

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