Der Judas-Schrein
Freund und Helfer«, schmunzelte Philipp.
»Besser du zerlegst die Tastatur«, schlug ihm Körner vor, »es könnte ja eine Wanze drin versteckt sein.« Er wandte sich an Basedov. »Check die E-Mails von Martin Goisser. Ich möchte wissen, wem der Junge was geschrieben hat, und wann.«
Der Fotograf begann die Kabel auseinander zu wickeln und die Teile an den PC zu stecken. Da erklang die Melodie seines Handys. Körner grinste, endlich wusste er, woher er sie kannte. Sie stammte aus »Arielle, die kleine Meerjungfrau« … unter dem Meer, unter dem Meer!
Basedovs Stimme klang bedauernd. »Hallo? Ja Schatz … nein, ich komme hier nicht weg. Nein, ich kann jetzt nicht reden, der Chef hat mir gerade eine Aufgabe verpasst. Ja, wichtig. Nein, Schatz. Ja, ich liebe dich auch.«
Er legte das Handy beiseite. Seine Ohren waren glühend rot.
»Habt ihr das gehört?«, rief Philipp. »Genau so geht man mit Frauen um!«
»Phil, du bleibst ein Idiot!«, mischte sich Sabriski ein und sah aus dem Fenster. »Und jetzt komm endlich da runter, bevor die Feuerwehrleute glauben, du tanzt auf dem Tisch.«
Körner hatte die Nase voll. »Runter! Wir beginnen mit der Arbeit.«
Die E-Mails auf Martin Goissers PC ergaben nichts. Basedov fand lediglich Newsletter von diversen Wissenschafts-Online-Foren und PDFs von Astronomie-Artikeln. Private E-Mails bekam der Junge nur von einem Mitschüler aus Neunkirchen, der ihn mit spaßigen Jpegs und Powerpoint-Präsentationen bombardierte, die Martin großteils gar nicht geöffnet hatte.
Basedov nutzte den PC und lud die Tatortfotos von seiner Kamera auf den Monitor. Sie sahen sich die Aufnahmen an, verglichen die Zeugenaussagen von Martins Bruder mit denen der unmittelbaren Nachbarn, die Berger über Mittag eingeholt hatte, und lasen sich in Philipps knappen Spurensicherungsbericht ein. Da er die Unterlagen des Falls bei sich hatte, ließ sich belegen, dass sich Martins Fingerabdrücke nicht am Tatort des Krajnikmordes befanden, weder am Schloss der Diskothek, noch auf der Theke, den Möbeln oder dem Eisengestell mit den Seilzügen.
Sabriski fasste ihren gerichtsmedizinischen Bericht über Martin Goissers Tod zusammen. Sie und Philipp waren einer Meinung: Sowohl die Schleifspuren am Balken als auch die Schürfungen am Hals des Opfers wiesen daraufhin, dass sich der Junge nicht selbst getötet hatte … es sei denn, er hätte es zu Wege gebracht, sich selbst am Strick hochzuziehen. Für Körner war das nichts Neues, und alle anderen Theorien, die sie entwarfen, blieben Vermutungen, die zu nichts führten. Er blockte alle voreiligen Schlussfolgerungen ab und machte klar, dass sie streng in Beweise, Indizien und Spekulationen trennen mussten. Von letzteren wollte er im Moment nichts hören.
Auf den ersten konkreten Hinweis stießen sie, als sie die Handschrift aus Martins Schulheften mit jener auf dem Abschiedsbrief verglichen, der in Folie verpackt vor ihnen lag.
»Nicht einmal schlecht gefälscht«, lautete Philipps Kommentar.
»Zumindest kennen wir die Handschrift des Täters«, murmelte Körner. Die Handschrift des Täters - wie doppelsinnig, schoss es ihm durch den Kopf. Über die wahre Handschrift des Täters, den modus operandi, wussten sie nicht das Geringste, obwohl der Mörder vermutlich schon zweimal zugeschlagen hatte. Körner betrachtete die Skizze, die Philipp vom Tatort angefertigt hatte und die Zeichnung der Reporterin. Das Blatt aus dem Fahrtenbuch des Rot-Kreuz-Wagens war zerknittert und an den gefalteten Stellen bereits eingerissen. Trotz der zerlaufenen Kugelschreibertinte hatte das Motiv nichts von seiner schockierenden Wirkung eingebüßt. Die Zeichnung erinnerte ihn an seinen Albtraum, als er auf der Wohnzimmercouch gelegen und das Blatt in der Faust zerknüllt hatte. Worin ähnelten sich die Morde? Er starrte auf die beiden Zeichnungen: Philipps Skizze des Erhängten mit allen Höhen-, Breiten- und Tiefenabmessungen, und die Kritzelei von dem Mädchen mit den ausgebreiteten Armen, den aufgerissenen Augen und dem zum Schrei geöffneten Mund. Was zum Teufel verband die beiden Morde miteinander? Wo lag das Motiv?
Körner lehnte sich zurück, verschränkte die Finger und ließ die Knöchel knacken. Sein Rücken war verschwitzt und sein Nacken von der eintönigen Sitzhaltung verspannt. Im Hintergrund lief Philipps Kofferradio mit den 16.00-Uhr-Nachrichten. Körner hörte nicht hin. Er stand auf und ging um den Tisch herum. Er brauchte dringend frische Luft. Im
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