Der Judas-Schrein
»Ich bin durstig wie ein Fisch.« Er fingerte einen Flachmann aus der Tasche.
»Lass das!«, fauchte sie ihn an. »Wir sind in der Kirche.«
»Na und?« Widerwillig ließ er die Flasche in den Mantel zurückgleiten.
Sie war zwar nicht religiös, doch immerhin besaß sie so viel Feingefühl, sich nicht in einer Kirche zu betrinken. Sie ignorierte das Weihwasserbecken und ging durch die Bankreihen. Innen wirkte die Kirche viel größer als von außen. Es roch nach Kalkstein und Kerzenwachs. Weihrauchkessel hingen in langen Ketten von der Decke und tränkten die feuchte Luft mit einem penetranten Geruch. Die Holzbänke waren leer, lediglich im Mittelgang stand ein krummer Mann in einer schwarzen Soutane. Er ließ die Perlen eines Rosenkranzes durch die Finger gleiten und betrachtete Sabriski und ihren Begleiter aufmerksam.
Sie hatte das Alter von Menschen noch nie richtig schätzen können, doch diesmal war sie sich sicher. Das Gesicht des Mannes war so faltig, er musste bestimmt über achtzig Jahre alt sein. Das wenige Haar war schlohweiß, die Stirn von Altersflecken übersät, und die Mundwinkel und Tränensäcke hingen wie bei einem Bernhardiner herab.
»Pater Sahms?«, fragte Philipp. »Haben Sie einen Moment Zeit für uns?«
Der Pfarrer neigte den Kopf. »Um 18.00 Uhr beginnt die Messe.«
»Dienstags?«, fragte Philipp.
Der Pfarrer lächelte milde, als habe er es mit einem Unwissenden zu tun. »Das Hochwasser steigt, die Regenschauer nehmen kein Ende. Bereits sieben Tage Urgewalt, von übermächtiger Hand gelenkt. Das ist die Rache, unser Fluch, Gottes Abrechnung, da reicht eine Messe täglich kaum aus.«
»Klingt nach der biblischen Sintflut.«
»Ein Mann mit Bildung.« Pater Sahms kam ihnen entgegen und reichte ihnen die Hand.
Sabriski fiel auf, dass das Bein des Pfarrers beim Gehen einknickte, als sei es abgestorben. Vermutlich war er zu eitel, um an einem Stock zu gehen.
»Ich nehme an, Sie sind nicht hier, weil sie den Schutz Gottes suchen.« Der Pater blickte sie mit wässrigen Augen von unten herauf an, sein linkes Augenlid zuckte. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir haben draußen die Gedenktafel gesehen. Die Kirche ist schon so alt?«, fragte Philipp.
Sabriski war froh, dass ihr Kollege das Reden übernahm. Für gewöhnlich war sie nicht auf den Mund gefallen, doch sie hatte bestimmt schon seit dreißig Jahren keine Kirche mehr betreten und fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Gewiss sah der Pfarrer an ihrem Blick, dass sie am liebsten draußen gewartet hätte. Doch besser hier, als im Regen zu stehen, sagte sie sich.
Während Pater Sahms Philipps Frage beantwortete, ging er langsam durch den Mittelgang zum Altar. Sie folgten ihm. »Die Pfarre wurde erstmals im Visitationsbuch von 1514 schriftlich erwähnt, wo es heißt: Die Pfarr in Untergrain. Damals hießen Heidenhof und Grein am Gebirge noch Ober- und Untergrain. Die Gemeinde war jung, als die Türken über das Land herfielen. Es ist mündlich überliefert, dass die Dorfbewohner in die Kirche flohen, doch die eindringenden Scharen richteten im Gotteshaus ein entsetzliches Blutbad an. Die Bewohner wurden wie Vieh abgeschlachtet, sodass das Blut in einem breiten Strom über den Kirchberg bis zum Hauptplatz floss.« Er lächelte. »So etwas finden Sie natürlich auf keiner Gedenktafel.«
»Eine schümme Zeit.«
»Grässlich ja, aber es kam noch schlimmer … der Schwarze Tod«, flüsterte der Pfarrer. »Um 1715 wurde von Fuhrleuten aus Wien die Pest eingeschleppt. Wohin man blickte, trugen die Leute schwarze Beulen, so groß wie Hühnereier. Der alte Friedhof vor der Kirche ist voll mit den Opfern. Wenn sie die Hauptstraße Richtung Heidenhof weiterfahren, finden Sie am Waldrand zahlreiche Kreuze und Marterln, die noch aus dieser Zeit stammen. Grein hatte es nie leicht gehabt im Lauf der Zeit.«
Philipp nickte.
»Interessieren Sie sich für Kirchengeschichte?« Pater Sahms musterte sein Gegenüber. Sabriski musste innerlich lachen. Bestimmt hielt der Pfarrer ihn für einen kulturell gebildeten Menschen, der er bei Gott nicht war. Phil konnte nicht mal U-Bahn-Graffiti von einem Werk Michelangelos unterscheiden, geschweige denn Deckenfresken ihrer Epoche zuordnen.
»Spätgotik?« Philipp deutete auf den drei Meter langen, auf zwei Stufen thronenden Altartisch. In der Mitte über dem vorspringenden Tabernakel erhob sich in Lebensgröße die Figur des Erzengels Michael, wie Sabriski an dem Schwert zu erkennen glaubte. Zu beiden Seiten
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