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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Stande. Zweihundert Männer wurden arbeitslos - praktisch über Nacht verließen die ehemaligen Grubenkumpel den Ort und zogen teilweise in das Einzugsgebiet von Wien.
    Nur wenige der Geräte wurden vor Ort abgebaut, die restlichen überdauerten die Kriegsjahre. Noch heute zeugen die Kesselanlage, die Dampffördermaschine und die 35 Meter hohe Esse des stillgelegten Bergwerks von dem Unglück. Die aus Wellblech errichteten Werkstätten- und Kanzleigebäude trotzen wie ein Mahnmal der Witterung. Selbst das Dynamit für die nie vollzogene dritte Sprengung liegt noch heute im Depot neben dem Segen-Gottes-Schacht verborgen.
    Am 9. September 1962, um 16.00 Uhr eröffnete der neu in das Amt gewählte Bürgermeister Heinrich Weißmann die 25-Jahr-Gedenkfeier. Zahlreiche Bürger aus Grein und Umgebung sowie Ehrengäste aus Neunkirchen fanden sich ein. Bischof Schandl weihte die Gedenktafel für die Opfer in der Marienkapelle ein, es sang der Greiner Kirchenchor. Nach dem Gottesdienst führte der Trauermarsch zum Eingang des Hauptschachts neben dem Greiner Friedhof, wo die Trauerfeier zu Ende ging. Unsere Gedanken weilen bei den Opfern Paulsen, Dittrich und Grieg und ihren Hinterbliebenen!
     
    Wie passend und gleichzeitig makaber die Situation doch war. Der Eingang zum Segen-Gottes-Schacht lag direkt neben dem Friedhof. Warum hatte Körner diese Verbindung nie gesehen? Als Junge hatten sich Wolfgang Heck, er und eine Hand voll weiterer Schulkameraden oft in den Stollen herumgetrieben. Daneben lag der Friedhof, doch darüber hatte er sich nie Gedanken gemacht, zumal er nichts über das Grubenunglück wusste. Außerdem wurde die Umgebung, in der man aufwuchs, zu einer Selbstverständlichkeit, die man nie in Frage stellte. Genauso gut hätte er sich fragen können, warum die Kirche auf einer Anhöhe stand, oder die Mühle an einem Bach lag.
    Plötzlich stockte ihm der Atem. Eine Gänsehaut kribbelte ihm vom Rückgrat bis zur Kopfhaut. Mit eiskalten Fingern hielt er das Buch in Händen und starrte hinein - nicht auf den Artikel, sondern auf die gegenüberliegende Seite. Dort waren neben den Greiner Jubilaren und den runden Geburtstagen die Geburtsanzeigen abgedruckt:
    Am 30. September 1962 kam mit Kaiserschnitt zur Welt: Alexander Körner, 3,5 Kilo schwer. Wir gratulieren zur Geburt!
     
    Augenblicklich wurde ihm schlecht. Wie in einem Film, der an ihm vorbeiraste, sah er seine Mutter, seinen Vater, das Elternhaus, sein Dachbodenzimmer und die bis auf die Grundmauern niedergebrannte Ruine. Körner schloss die Augen. Er wühlte nicht nur in der Geschichte des Dorfes, sondern auch in seiner eigenen. War es ein Zufall, dass er ausgerechnet diese Ausgabe des Dorfanzeigers in der Hand hielt? Hätte er nicht die nächsten zwanzig Jahre in Wien leben und weiterhin seinen Job verrichten können, ohne nach Grein zurückzukehren, im vom Hochwasser überfluteten Kellerarchiv des alten Gemeindeamts zu stehen und seine eigene Geburtsanzeige zu lesen?
    Da riss ihn der schrille Klingelton des Handys aus den Gedanken und schleuderte ihn in die Realität zurück. Eilig klemmte er sich die gebundene Ausgabe des Dorfanzeigers unter den Arm und kramte das Telefon hervor.
    Eine Frauenstimme. »Hi, Alex. Wie geht’s?«
    »Blendend, Sybille.«
    »Du klingst aber nicht danach.«
    Rolf Philipps Exfreundin arbeitete bei der Telekom und war seine heimliche Quelle, wenn er rasch an Informationen herankommen musste … wie in diesem Fall.
    »Ich habe die Telefonate des Anschlusses überprüft, den du mir heute Nachmittag gegeben hast, von diesem Goisser …« Er hörte wie sie mit einem Blatt Papier raschelte. »Gestern gab es lediglich einen einzigen Anruf, und zwar an diese Nummer.«
    »Moment.« Er kramte einen Kugelschreiber aus dem Mantel und kritzelte die Nummer auf den Seitenrand des Dorfanzeigers. »Und wann war das?«
    »Um 7.05 Uhr, das Gespräch dauerte knapp eine halbe Minute. Mehr habe ich leider nicht.«
    »Danke, du bist ein Schatz.« Er betrachtete die Notiz in der Buchseite. Wer immer um sieben Uhr früh am Montagmorgen telefoniert hatte, führte das Gespräch exakt eine Stunde vor dem Mord an Sabine Krajnik. Bloß ein Zufall? Körner starrte auf die zehnstellige Telefonnummer. War es Martin Goisser gewesen? Vermutlich, denn Hermann Goisser verließ das Haus um sechs Uhr früh. Die Frage lautete: Wer war der Gesprächspartner? Wen hatte Martin Goisser angerufen? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Er tippte die Nummer in das Handy

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