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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Dateien zuletzt gespeichert wurden, lässt sich zumindest eine chronologische Entwicklung der Themen erkennen, für die sich Martin interessierte. Die ältesten Dateien sind mit Begriffen aus der Medizin betitelt wie Verkrümmungen oder Hüft-, Gelenk- und Haltungsschäden. Der Junge erstellte einige Dateien mit Stammbäumen über die Familienverhältnisse der Ortsbewohner. Später schien er sich für das Bergwerksunglück zu interessieren, denn Begriffe wie Steinkohle, Bergeaufzug und Segen-Gottes-Schacht tauchen auf.« Basedov klickte mit der Maus. »Die jüngsten Dateien dürften sich mit der Kirchengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigen. Nach der Dateigröße zu urteilen liegt der Schwerpunkt auf Pater Dorn, dem Kirchenbrand von 1864 und einem gewissen Judas-Schrein.«
    »Was ist das?«
    »Philipp und ich haben es rausgefunden«, mischte sich Sabriski in das Gespräch. »Die Überreste stehen in der Kirche und sind mit einem Laken verhängt.«
    »Und dann hat unser Besuch noch das hier gebracht.« Philipp hielt ein speckiges, in schwarzes Leder gebundenes Buch hoch. »Jana hat es im Kirchenarchiv entdeckt. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1864. Sie enden an jenem Tag, als Pater Dorn starb«, erklärte er und ließ den Band zu Körner über den Tisch rutschen. »Wirres Zeug, wenn du mich fragst.«
    »Erzählt mir alles von Anfang an.«
    »Gib du die Märchentante.« Philipp lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. .
    Sabriski warf einen kurzen Blick auf das ledergebundene Buch, das sie mitgebracht hatten. »Glaubt mir, oben vom Kirchberg aus wirkt die Überschwemmung noch bedrohlicher als von hier unten.«
     
    Sabriski kam sich vor wie Noah, der vom Dach seiner Arche über das Wasser blickte. Sie stand am Rand der Anhöhe. Die Kirche thronte über dem Platz, nur eine schmale Steintreppe mit zwei Kehren führte hinauf. Die Stufen waren rutschig, das rostige Geländer schimmerte im Regen. Unter ihr lag der Dorfplatz. Deutlich war die Straße zu erkennen, die sich durch den Ort schlängelte, am Haus der Goissers und dann an einem Friedhof vorbei, ehe sie im Wald verschwand. Auf der anderen Seite führte die Straße an Bauernhöfen, Viehställen, einem Fußballplatz und einer Tankstelle entlang und erreichte die Brücke. Die Trier war zu einem breiten Strom angeschwollen, der sich erdfarben über das Land wälzte. Durch die starken Regenfälle und die dichte Wolkendecke konnten sie das andere Flussufer gar nicht erkennen.
    Sabriskis Mund klappte auf. »Sieh dir das an.«
    »Mir wird schwindelig.« Philipp wandte sich um. Hinter ihnen lag ein schmiedeeiserner Zaun, der das Kirchengelände umgab. Philipp zog das Gatter auf und ließ Sabriski hinein. Ein Kiesweg führte über einen Hügel zu einem verrotteten Friedhof mit windschiefen Kreuzen. Bestimmt war keines der Gräber jünger als zweihundert Jahre, überlegte sie. Selbst der alte Teil des Wiener Zentralfriedhofs sah gepflegter aus als diese Steintafeln. Einige waren so verwittert, dass ihre Inschrift nicht mehr zu erkennen war. Neben einer Bank stand eine Gedenktafel.
    »Den Opfern der Türkenkriege«, las Philipp. »Bei der ersten Türkenbelagerung von Wien 1529 ergossen sich die türkischen Heerscharen über diese Gegend. Grein am Gebirge bekam die Türkennot schwer zu spüren. Die Kirche wurde teilweise, der Pfarrhof gänzlich zerstört. Der damalige Pfarrer fiel in die Hände der Feinde und wurde ermordet. Erst Hans Katzinger rieb die feindlichen Truppen bis zur Vernichtung auf, die ihr Lager zwischen Wiener Neustadt und Neunkirchen errichtet hatten … brrr!« Er schüttelte sich. »Ein unheimlicher Ort, an dem wir uns befinden.«
    Sabriski fröstelte. Unmittelbar vor ihnen wuchs die Kirche aus dem Erdboden, ein verwinkeltes Gemäuer mit Erkern und einer zugebauten Sakristei. Der Kirchturm aus rohen, unverputzten Ziegeln vervollständigte das Bild des altertümlichen Bauwerks. Einzig die Spenglerarbeiten aus Kupferblech unter dem baufälligen Holzdach wirkten neu.
    »Ich bin klitschnass, komm!« Sie wollte den Kirchenbesuch rasch hinter sich bringen, zog die schwere Holztür auf und bedeutete Philipp, der noch immer vor der Gedenktafel stand, sich zu beeilen. Ein kalter Wind pfiff über die Gräberreihen und wirbelte das Laub auf.
    Gemeinsam betraten sie die Kirche. Philipp schüttelte sich wie ein nasser Hund und strich sich die Mähne nach hinten. Mit dem schulterlangen Haar, der hohen Stirn und dem Kinnbart sah er wie ein Künstler aus.

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