Der Judas-Schrein
eisenbeschlagenen Holztür endete. Er massierte sich die Schläfen und lächelte gequält, als plage ihn ein schlimmer Migräneanfall. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen, die Messe beginnt in einer halben Stunde.«
Der Pater ließ sie allein und humpelte davon. Philipp zog die Tür auf und sie traten ein. Der Raum wurde nur durch ein kleines Fenster in Kopfhöhe erhellt, in dessen Mitte ein Eisenkreuz einzementiert war. Die Mauer war so dick wie die eines altertümlichen Klosters. In der Kammer roch es nach Papier und den Holzregalen, die bis zur Decke reichten. Die Stellagen waren prall gefüllt mit brüchigen Folianten, aber auch modernen Büchern.
»Kirchenarchiv ist ein wenig übertrieben«, murrte Philipp. »Rumpelkammer für Altpapier trifft es wohl eher.«
»Aber ordentlich sortiert.« Sabriski betrachtete die Karten, die in den Plastikschildchen am Regal steckten. »Theologie, Historie, Kirchenchor, die Jahrbücher und Enzyklopädien über das Kirchenrecht. Hier stehen Visitationsbuch, Sterberegister, das Pfarrgedenkbuch und die Greiner Kirchenchronik.«
»Willst du das alles lesen?«, ächzte Philipp.
Sabriski betrachtete die Bände, die mit einer fingerdicken Staubschicht überzogen waren. Sie wischte mit dem Mantelärmel über die Buchrücken und hievte die Kirchenchronik von 1861 bis 1870 aus dem Regal. Automatisch wollte sie den Staub vom Buchdeckel blasen, doch war er sauber abgewischt. Erstaunt hielt sie den glänzenden Band in Händen. Der Deckel knackte, als sie das Werk öffnete, die pergamentenen Blätter knisterten. »Kannst du die alte Schrift lesen?«, fragte sie.
Philipp trat an ihre Seite. Gemeinsam blätterten sie zum Jahr 1864. Sie entdeckten das Kohleportrait eines Mannes mit hagerem Gesicht und vorspringendem Kinn. Die Form des Kopfes war so lang gezogen, als sei der Anblick durch einen Juxspiegel verzerrt worden. Der Hals des Mannes steckte im steifen, weißen Kragen einer Priestersoutane. Mit den großen, wimpernlosen Augen und den aufeinander gepressten dünnen Lippen sah er gespenstisch aus. Darunter stand: Pater Dorn 1805 - 1864.
Philipp fuhr mit den Fingern über die Zeilen, dabei bewegte er die Lippen: »Hier steht nicht viel. Die Kirche wurde in der Nacht der Sommersonnenwende 1864 in Brand gesteckt, zuvor wurde der Dorfpfarrer von der aufgebrachten Bevölkerung ermordet …« Er stockte. »Sie haben ihn mit Stangen halb tot geprügelt und danach in der Kuppel der Kirche erhängt.«
»Wie Martin Goisser«, stellte sie fest.
»Aber was haben diese Ereignisse mit ihm und Sabine Krajnik zu tun? Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, es ist doch vollkommen egal, was vor hundertvierzig Jahren passiert ist.«
»So ähnlich hat es Sabine in ihrem Tagebuch auch formuliert. Vielleicht ist es aber nicht egal.«
Als Philipp das Buch ins Regal zurückstellte, wirbelte eine Staubwolke auf. Er hustete und putzte sich die Fussel vom Mantel.
»Das Buch war als einziges sauber. Bestimmt hat Martin darin geblättert«, mutmaßte Sabriski.
»Das Archiv ist öffentlich zugänglich, aber es kommen so gut wie keine Besucher her«, erinnerte sich Philipp und hob den Zeigefinger. »Mit Ausnahme von Martin.« Er drehte sich um die eigene Achse und betrachtete die Stellagen von oben bis unten. »Martin hat hier seine Spuren für uns hinterlassen.« Er schritt zur nächsten Regalreihe. »Er kam doch oft hierher, und falls er innerhalb der letzten Jahre der Einzige war, lässt sich leicht feststellen, wonach er gesucht und welches Buch er in Händen gehalten hat. Seine Fingertapser müssten überall im Raum verstreut sein.«
Während sich Philipp die Bücher in der einen Regalreihe vornahm, umrundete sie das Ende der Stellage und betrat den nächsten Gang.
»Herr im Himmel!«, entfuhr es ihr. Diese Kammer wurde bereits seit Jahren nicht mehr gefegt. Bestimmt hatte Pater Sahms keine Köchin, und falls doch, dann war das Kirchenarchiv für sie tabu. Auf dem Boden lag der Staub zentimeterdick und hatte sich am Mauerrand zu dicken Wollmäusen geballt. Das Licht, das durch das hohe Fenster fiel, brachte den Staub wie magisch zum Leuchten.
»Pass auf, dass du dir keine Blutvergiftung holst«, scherzte Sabriski. Im nächsten Augenblick verstummte sie. Philipp lachte und entgegnete irgendetwas, doch sie hörte es nicht. Gebannt starrte sie auf den Boden. An einer einzigen Stelle an der Randleiste war der Staub weggewischt. Sie kniete davor nieder. Deutlich waren Fingertapser am Holz zu sehen.
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