Der Judas-Schrein
herum, das Ding muss noch untersucht werden.«
»Keine Sorge.«
Körner verließ den Schankraum und betrat den Korridor. Augenblicklich wurde es leiser. Endlich allein. Den Rummel und die vielen Menschen hielt er nicht lange aus. Er brauchte Ruhe, um über einige Dinge nachzudenken. Als er an der Doppelglastür vorbeikam, stürzte ihm Basedov mit dem Regenmantel über der Schulter entgegen.
»Du schläfst mit Phil in einem Zimmer«, informierte er den Fotografen.
»Ja«, antwortete der nur. Die Digitalkamera baumelte um seinen Hals. Er hielt ein Stativ in der Hand und schlüpfte umständlich in den Mantel.
»Gehst du etwa auch einkaufen?«
Basedov sah ihn verwirrt an. »Ich möchte etwas prüfen. Hast du dir schon überlegt, warum der erste Mord ausgerechnet 50 passiert ist und nicht anders? Warum er ausgerechnet in dieser Bar passiert ist und nicht woanders?«
Körner atmete tief durch. »Andauernd, aber ich komme nicht dahinter.«
»Vielleicht finde ich es raus.«
»Wie denn?«
»Gib mir ein paar Minuten Zeit.« Basedov knöpfte sich den Mantel zu und lief den Gang hinunter.
Körner bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. »Nimm dein Handy mit!«, rief er Basedov nach. »Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst.« Er sah, wie der Fotograf durch die Tür in den Schankraum verschwand.
Er hoffte, Basedovs Ermüdungen würden kein Öl ins Feuer gießen und Sabriskis Phantasiegespinste von neuem anfachen. Er konnte kein hysterisches Team gebrauchen. Schlimm genug, dass er selbst darunter litt, in diesem Ort festzuhocken, und kurz davor stand, durchzudrehen.
Er betrat den Gemeindesaal, und während er einige Dinge zusammenkramte, bevor er sein Zimmer aufsuchte, sah er den Fotografen quer über den Platz zur Gaslight Bar eilen.
Körners Einzelzimmer enthielt lediglich ein Handwaschbecken mit Spiegel, einen Spind, dessen Tür sich nicht versperren ließ, einen Tisch mit Stuhl und ein Bett. Schmuddelige Vorhänge hingen vor dem Fenster, die Bettwäsche war mit einem geblümten Stoff überzogen und auf dem Nachtkästchen hing eine mickrige Glühbirne unter einem staubigen Lampenschirm. Das Zimmer hatte nicht einmal eine Duschkabine und schon gar keine Toilette. Verfügten wenigstens die Doppelzimmer über ein Klo? Der Gedanke, dass sich Basedov und Philipp in einem ähnlich winzigen Zimmer wie diesem gegenseitig nervten, machte ihm Sorgen.
Die Enge des Raums störte ihn weniger als der Nikotingestank, der im Teppichboden, in der Matratze und im Stoff der Gardinen nistete. Er schob den Vorhang beiseite und kippte das Fenster. Regen prasselte gegen die Scheibe, draußen war es stockdunkel. Aus seinem Zimmer hatte er einen wunderbaren Ausblick auf den Hauptplatz. Im Krämerladen brannte Licht. Die beiden Frauen schoben bestimmt einen Einkaufswagen vor sich her und plünderten die letzten Keks- und Kosmetikartikel aus den Regalen. Die Tür zur Gaslight Bar stand offen. Gedämpftes Licht fiel durch das Fenster der Diskothek.
Ruf an, wenn du mich brauchst!
Körner legte das Handy auf das Nachtkästchen. Der Akku war nahezu leer und reichte bloß noch für einige Minuten Gesprächszeit. Da er nicht damit gerechnet hatte, in diesem Kaff festzusitzen, hatte er weder Ladegerät, Netzteil noch Ersatzakku mitgenommen. Also musste er mit diesem Handy auskommen, und er war froh, dass es im Moment nicht klingelte.
Körner schob sich den Stuhl zum Bett, legte die Beine auf das Kopfkissen und schlug das alte in Leder gebundene Tagebuch auf. Nach wenigen Seiten würde er sich an die Kurrentschrift gewöhnt haben. Im Moment wollte er lediglich herausfinden, wie und warum Pater Dorn ermordet worden war. Rasch blätterte er zu den letzten zehn beschriebenen Seiten.
21. Juni 1864: In der Abenddämmerung strömten die Menschenmassen mit Fackeln und Heugabeln bewaffnet den Kirchberg hinauf. Ihr erbittertes Geheul tönte in meine Kammer. Der Fackelgeruch nach Teer und Harz drang durch das Fenster. Seit der Geburt des Gezüchts wusste ich, es würde ein schmähliches Ende mit Pater Dorn und der Grainer Kirche nehmen - und jetzt, da die Männer endlich entdeckt hatten, was sich tatsächlich im Gewölbe verbarg, brachten sie binnen Stunden alles zu einem Abschluss. Zum Glück übersahen sie in ihrem Eifer mein Versteck.
Als ich das Bersten des Kirchentors hörte, schlich ich aus der Kammer und verbarg mich hinter einer Säule. Oh, der Anblick war entsetzlich! Männer von großem Wuchs stürmten in die Kirchenhalle,
Weitere Kostenlose Bücher