Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
Vom Netzwerk:
zerschlugen die Bänke und verbarrikadierten den Abgang zum Gewölbe. Hämmer und Nägel klirrten aufeinander. Die Männer schoben den schweren Altarstein vor das Gewölbe. Sie wussten, es wäre nutzlos, den Abgang lediglich mit Brettern zu vernageln. Bestimmt waren sie sich der Gefahr bewusst, die von der Maschine ausging. Ich an ihrer Stelle hätte es ebenso gemacht.
    Die Weiber kreischten und stachelten die Horde weiter an. Da öffnete sich die Tür zur Sakristei. Pater Dorn trat heraus und schritt ihnen entgegen. Er war nackt, stellte die Wunden seiner Geißelung offen zur Schau. Wie ein Sünder breitete er die Arme aus und senkte das Haupt, als erwarte er sein Ende.
    »Du Lump!«, zeterten die Weiber. »Du hast uns die Kinder genommen!«
    Nicht nur die Kinder … ach, wenn sie doch nur die gesamte Wahrheit wüssten! Pater Dorns Leben hätte nicht mehr länger als einen Atemzug gedauert.
    Sogleich wurde er von den Männern gepackt, und da wusste ich, es würde in einem Blutbad enden. Sie holten mit Stangen aus und prügelten auf seine Arme und Beine ein. Bei jedem Schlag zuckte ich in meinem Versteck zusammen, als sei ich selbst getroffen. Ich presste mir die Hände an die Ohren, dennoch hörte ich die Knochen brechen. Sie prügelten Pater Dorn mit den Stangen fast zu Tode. Weder klagte noch jammerte er. Es war unvorstellbar, der Pater lachte! Sein Mund war verzerrt, seine Augen rollten. Er gackerte und kicherte wie ein verrücktes Kind. Oh, hätte er doch nur geschrien, um sein Leben gewinselt! Doch Pater Dorns Lachen brachte die Meute noch mehr auf. Verzückt hob er die Augen zur Kuppel, und selbst als die Stangen seinen Rücken, den Nacken und sein Haupt trafen, lächelte er.
    Als er zu Boden fiel, drehten ihn die Weiber auf den Rücken, während die Männer auf ihn eindroschen. Pater Dorns Lachen verstummte nicht. Woher nahm er nur die Kraft? Waren diese Schmerzen seine Erlösung? Vielleicht war er den Männern sogar dankbar. Ein letztes Mal bäumte er sich auf. Sein Gesicht war kaum wieder zu erkennen, zu einer Fratze verzerrt. Aber da war noch etwas anderes in seinen Augen: eine abgrundtiefe Traurigkeit und eine ungeheure Erlösung. Es zerriss mir fast das Herz. Die Männer drängten sich um ihn wie Schweine um den Trog. Sie verdeckten mir die Sicht. Ich sah nur, wie sie die Stangen hochschwangen und immer wieder ausholten. Unfähig, es länger zu ertragen, kauerte ich mich hinter die Säule und verbarg mein Gesicht in den Händen. Ich schreckte hoch, als der Tumult plötzlich lauter wurde und tosendes Gebrüll durch die gesamte Kirche dröhnte. Dunkle Schwaden zogen an mir vorüber. Rauchgeruch! Ich hielt mir die Kutte vor den Mund und unterdrückte einen Hustenreiz. Als ich um die Säule spähte, rang ich schockiert nach Atem. Mein Herz raste. Herr im Himmel, Pater Dorn! Er hing hoch oben in der Kuppel der Kirche. Sein dürrer Körper, nackt an einem Seil, über und über mit Wundmalen bedeckt, die ihm die Männer zugefügt hatten. Das Getrampel der Dorfbewohner, die an mir vorbei aus der Kirche stürzten, riss mich aus der Erstarrung. Im nächsten Augenblick war ich allein. Mittlerweile züngelten die Flammen bis zur Decke und erfassten die Füße des Paters. Seine Beine zuckten! Gott im Himmel - er öffnete die Augen, riss die Lider auf, sodass die Augäpfel weiß hervorquollen. Mehr sah ich nicht. Die Flammen schlugen über seinem Kopf zusammen. Mir brannte jetzt der Rauch in den Augen. Hustend sprang ich auf, lief zu meiner Kammer und verriegelte die Tür. Als sei der Teufel hinter mir her, schrieb ich in mein Tagebuch. Jetzt, da eine halbe Stunde vergangen ist, wird es nur noch wenige Minuten dauern, bis die Flammen den Ostflügel erreicht haben. Bereits als dieser heilige Ort zu einem unheiligen wurde, hätte mir klar werden müssen, dass es so enden würde. Warum bin ich noch hier? Längst hätte ich die Flucht ergreifen sollen. Doch die Wahrheit ist, die Neugierde hielt mich fest. Ach, hätte ich doch bloß alles hinter mir gelassen - der Anblick von Pater Dorn wäre mir erspart geblieben. Auch Judas erhängte sich, kommt mir in den Sinn. Ich kann an nichts anderes mehr denken, als an Judas, der im Wahnsinn endete und sich umbrachte. Was mochte ihn dazu verleitet haben, Jesus zu verraten? War auch in ihn der Teufel gefahren? Der Apostel Judas wird nie Vergebung finden können, genauso wenig wie Pater Dorn. Sie beide teilen das gleiche Schicksal. Judas war der Stachel im Fleische Jesu, wie der

Weitere Kostenlose Bücher