Der Judas-Schrein
ihn ungefähr einen Meter über dem Boden, an der Wand hinter den Kreideumrissen. Der Fotograf klappte das Stativ auseinander und montierte die Kamera darauf. Ohne lange zu experimentieren, zoomte er die vermeintliche Stelle heran und löste aus. Das Blitzlicht blendete ihn für den Bruchteil einer Sekunde und zauberte schwarze Flecken vor seine Augen. Er hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt, doch als er das Display der Kamera ausklappte und das Foto auf dem Monitor betrachtete, merkte er deutlich die Lichtspiegelung. Sie war noch immer da! Und wie! Weil er die Wand so nahe herangezoomt hatte, war der Lichtreflex am rechten oberen Rand deutlicher zu sehen als auf den Tatortfotos. Er holte jene Stelle an der Wand so nahe wie möglich heran. Das nächste Foto zeigte den Reflex in einer gewaltigen Nahaufnahme. Die Kamera bot ihm nicht die gleichen Möglichkeiten wie Mardns PC mit dem Bildbearbeitungsprogramm, doch mit einigen Funktionen konnte er den Reflex auf dem Display vergrößern und die Pixelauflösung erhöhen.
»Oh, nein …« Ihm stockte der Atem. Er starrte auf das Display. Totale Vergrößerung und maximale Scharfzeichnung ergaben ein merkwürdiges Bild. Im Lichtreflex waren eindeutig die Regenbogenfarben zu erkennen, was nichts Unnatürliches darstellte, doch die Spiegelung verbreitete sich nicht sternförmig. Viel eher sah es aus, als krümme sich das Licht um einen Punkt in der Wand, als biege sich das Blitzlicht in einem Halbkreis um jene Stelle.
Er war kein Physiker, um sich dieses Phänomen zu erklären, doch wusste er, dass er diesen Effekt bisher auf keinem einzigen seiner Bilder bemerkt hatte - und er war schon verdammt lange Fotograf. Was immer dieser gekrümmte Blitz darstellte, er würde sich hüten, Philipp davon zu erzählen. Blöde Kommentare, dass er mit seiner Kamera nicht umzugehen wisse, fehlten ihm gerade. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, würde er Alex davon berichten. In der Zwischenzeit wollte er mehr darüber herausfinden, denn bestimmt ließ sich Alex nur schwer mit einer Lichtspiegelung am Tatort beeindrucken, deren Herkunft nicht erklärbar war.
Er marschierte um das Stativ herum und ging vor der Wand in die Hocke. Die speckigen Holzbretter befanden sich unmittelbar vor seiner Nase. Er roch einen penetranten Schwefelgeruch, als befänden sich die Abwasserrohre einer altertümlichen Kuranstalt direkt hinter der Mauer.
Vorsichtig tastete er mit der Fingerkuppe über die Wand. Er zog die Schulter zur Seite, die einen Schatten auf die Holzbretter warf, damit das geringe Licht der Deckenbeleuchtung direkt auf die Wand fiel.
Er zog scharf die Luft ein. Wenn er sich konzentrierte und genau hinsah, bemerkte er, wie sich das Licht um eine bestimmte Stelle an der Wand krümmte, als würde es von einem mächtigen Magneten abgelenkt… falls es so ein Phänomen überhaupt gab. Er tauchte den Finger in den Lichtbogen, stellte aber nichts Auffälliges fest. Da tippte er mit dem Finger in die Wand. Ein Schauer rieselte ihm von der Fingerkuppe über den Handrücken, als stehe die Wand mit einer geringen Spannung unter Strom. Als er fester in das Holz drücken wollte, knarrten neben ihm die Holzdielen. Er fuhr herum. Aus dem hinteren Bereich der Bar drang ein Rauschen. Für einen Augenblick knarrte und grollte der Boden unter ihm. Basedov blickte auf und hielt den Atem an. Nichts! Er lauschte.
Deutlich drang ein schweres Atmen durch den Gang zu ihm. Etwas befand sich im Korridor, der an den Toiletten vorbei zum Hinterhof führte. Streunte der Hund etwa wieder herum? Oder erlaubte sich Philipp einen üblen Scherz mit ihm? Bestimmt nicht. Der Spurensicherer wusste gar nicht, dass er hier war. Da legte sich ein Schatten über ihn. Im Türrahmen stand die Silhouette einer hageren Gestalt. Ihr Gesicht lag im Dunkel. Eine lange Stange ragte ihr aus dem Kopf. Basedov fuhr zurück.
»Das würde ich an Ihrer Stelle lassen«, murrte die Gestalt, während sie ins Licht trat.
Erleichtert ließ Basedov die Schultern sinken. Die Wirtin des Braunen Fünfenders stand vor ihm und hielt den Stiel eines Wischmopps in der Hand. »Himmel, haben Sie mich erschreckt!«
»Das würde ich an Ihrer Stelle lassen«, wiederholte sie und stellte einen Eimer voll Wasser zu Boden. Sie nickte zur Wand hin. »Es wehrt sich.«
»Was wehrt sich?« Basedov sah sie verwirrt an. Mit einem Mal schien die Wirtin verändert und machte einen seltsamen Eindruck auf ihn.
»Ich wünschte, Sie würden es nicht herausfinden.« Sie
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