- Der Jünger des Teufels
dem
Weg zu gehen und mich nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen zu erkundigen.
Das Büro sagte mir, wo ich Sie finde.«
»Wann sind Sie angekommen?«
»Bin gestern Abend in Phoenix gelandet. Es war der einzige Last-Minute-Flug,
den ich kriegen konnte. Dann hab ich mir einen fahrbaren Untersatz gemietet und
bin hergekommen. Sie sehen beschissen aus. Habe ich Sie geweckt?«
Es war nicht Lous Art, so plötzlich aufzutauchen, und ich war
auf der Hut. »Ich habe mich nur ein bisschen ausgeruht. Was ist los?«
Er sah sich um, spähte auf die Kaffeetasse und die Glock
auf dem Nachttisch und blickte auf die zerknitterte Bettdecke, die nicht
zurückgeschlagen war. »Mich würde interessieren, wann Sie das letzte Mal eine
Nacht richtig durchgeschlafen haben.«
Ich hatte die ganze Woche nie länger als drei Stunden
geschlafen. »Sie wissen, wie es ist, wenn man auf einen Durchbruch hofft.«
Lou runzelte die Stirn. »Wir hoffen seit über fünf Jahren
auf einen Durchbruch. Hört sich an, als hätte ich was verpasst. Möchten Sie
darüber reden?«
»Erinnern Sie sich an die Theorie, die wir über den Killer
entwickelt hatten?«
Lou zog den nassen Mantel aus, hängte ihn über die
Stuhllehne und strich sich mit der Hand über seinen beinahe kahlen Schädel. »Wir
hatten viele verschiedene Theorien. Geben Sie mir einen Tipp, welche Sie
meinen.«
Lous unerwarteter Besuch verdrängte meinen Kummer. Ich setzte
mich aufs Bett. »Alle achtundzwanzig Opfer, die wir dem Jünger bisher
zuschreiben, wurden jeweils zu zweit getötet, als Paar, und ihre Leichen wurden
verbrannt. Zumeist waren es Vater und Tochter oder ein Mann und ein Mädchen,
bei denen der Altersunterschied dem entsprach. Nur in drei Fällen waren die
jüngeren der beiden Opfer männlich – Jungen in der Pubertät. Die meisten wurden
in den USA getötet, aber zehn dieser Doppelmorde wurden im Ausland begangen.
Paris, London, Rom, Wien, Istanbul. Daher glaubten wir zunächst, der Killer könne
Geschäftsmann mit internationalen Verbindungen oder Chef eines Unternehmens
sein. Möglicherweise auch jemand mit medizinischer Ausbildung, weil wir
vermuten, dass er seine Opfer vor der Ermordung mit Benzodiazepin betäubt hat.«
Lou nickte. »Diese Einschätzung erschien damals sinnvoll, weil
wir Spuren der Droge bei einigen Opfern nachweisen konnten, deren Körper nicht
vollständig verbrannt war. Aber das hat uns nicht weitergebracht, Kate. Doch
getreu der verbreiteten Vorstellung von Serienkillern war jeder Mord ein
vermeintlicher Schritt des Täters zur Vervollkommnung, ein Versuch, den
perfekten Mord zu verüben … zumindest so perfekt, wie ein geistig verwirrter
Killer ihn sich vorstellt. Was wollten Sie sagen?«
»Da wir keine neuen Spuren hatten, beschloss ich, die
gesamte Ermittlung neu aufzurollen und einen bestimmten Aspekt noch einmal
aufzugreifen.«
»Und welchen?«
»Die Morde wurden in einem ungefähren Abstand von sechs Monaten
verübt – plus minus ein Monat. Daher nahm ich an, dass wir in den nächsten ein
bis zwei Monaten wieder mit einem Doppelmord rechnen mussten. Kurz nachdem Sie
in Urlaub gefahren sind, habe ich beschlossen, sämtliche internationalen Konferenzen,
die in den nächsten sechs Wochen in den USA stattfinden, unter die Lupe zu
nehmen. Insgesamt zweiundfünfzig. Ich habe die Sondereinheit in fünf Teams
aufgeteilt, die sämtliche Treffen überprüfen. Zurzeit konzentrieren wir uns auf
eine Tagung in Sedona, an der einhundertzwanzig Psychiater aus dreißig Ländern
teilnehmen.«
»Und welcher Strategie folgen Sie?«, fragte Lou.
»Erstens wurde die Mehrzahl der Opfer an abgelegenen,
unzugänglichen, unterirdischen Orten ermordet, zumeist in Höhlen oder Tunneln,
stillgelegten Bergwerken, U-Bahn-Stationen oder Kellern – überall dort, wo
dunkle Enge herrscht. Wir wissen, dass der Killer sich stets an ein sonderbares
Ritual hält, wenn er die Leichen seiner Opfer verbrennt, und dass er ein
kleines schwarzes Holzkreuz zwischen den Toten zurücklässt. Oft wurden die
Opfer erst nach langer Zeit gefunden, sodass äußere Einwirkungen sämtliche
Spuren verwischt hatten, die etwaige Transportmittel hinterlassen haben
könnten. Zwei schwache Abdrücke von Autoreifen, die wir gefunden haben, waren
wegen des starken Regens nicht eindeutig zu identifizieren.«
Lou nickte. »Und es ist uns nicht gelungen, die Bedeutung der
Kreuze zu entschlüsseln, wenn man vom religiösen Aspekt absieht, der auf der
Hand liegt.«
»Stimmt«,
sagte ich.
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