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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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jemandem gegeben worden ist. Es klatschte nur so! Er wollte schimpfen und sich auf sie stürzen, aber ich hielt ihn zurück, und das Mädchen fand Zeit davonzulaufen. Als wir allein geblieben waren, gerieten wir sofort miteinander in Streit: ich sprach alles aus, was sich während dieser ganzen Zeit in mir an Unzufriedenheit angesammelt hatte; ich sagte ihm, er sei ein Typ von kläglicher Unbegabtheit und Mittelmäßigkeit und habe nie die geringste Spur einer Idee besessen. Er belegte mich mit Schimpfworten ... (ich hatte ihm einmal von meiner illegitimen Herkunft Mitteilung gemacht), dannspuckten wir voreinander aus, und seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen. An jenem Abend war ich sehr ärgerlich, am andern Tag schon nicht mehr so sehr, und am dritten hatte ich die ganze Sache vergessen. Und sollte man es glauben: ich dachte zwar nachher noch manchmal an dieses junge Mädchen, aber doch nur gelegentlich und flüchtig. Erst nach meiner Ankunft in Petersburg (ich mochte wohl schon vierzehn Tage da sein) erinnerte ich mich auf einmal an diese ganze Szene und schämte mich plötzlich so sehr, daß mir buchstäblich die Tränen der Scham über die Wangen liefen. Der Gedanke daran quälte mich den ganzen Abend und die ganze Nacht und quält mich mitunter auch jetzt noch. Ich konnte anfangs gar nicht begreifen, wie es überhaupt möglich gewesen war, daß ich mich damals so unwürdig und gemein benommen hatte, und besonders, daß ich diesen Vorfall vergessen, mich seiner nicht geschämt und ihn nicht bereut hatte. Erst jetzt ist es mir klargeworden, woran das lag: schuld daran war meine »Idee«. Um es kurz zu machen, ich komme zu folgender Schlußfolgerung: wenn jemand einen feststehenden, dauernden, starken Gedanken im Kopf hat und von ihm völlig in Anspruch genommen ist, dann wird er dadurch gewissermaßen aus der Welt in die Einöde versetzt, und alles, was geschieht, gleitet nur flüchtig an ihm vorüber, an der Hauptsache vorbei. Selbst die äußeren Eindrücke werden nicht in normaler Weise aufgenommen. Und das wichtigste ist außerdem, daß man immer eine Ausrede hat. Wie oft peinigte ich in dieser Zeit meine Mutter, und in wie schmählicher Weise ließ ich meine Schwester unbeachtet: ›Ach was, ich habe meine »Idee«, alles andere sind Bagatellen!‹, so ungefähr sagte ich im stillen zu mir. Ich selbst wurde beleidigt, schwer beleidigt, ich ging beleidigt davon, und dann sagte ich plötzlich zu mir selbst: ›Ach was, ich nehme eine unwürdige Stellung ein, aber ich habe doch meine »Idee«, und davon wissen die anderen nichts.‹ Die »Idee« tröstete mich in Schande und Erniedrigung; aber auch alle meine Schändlichkeiten versteckten sich hinter der »Idee«; sie machte mir sozusagen alles leichter, jedoch breitete sie auch vor meine Augen eine Art Nebel; aber eine so unklare Auffassung der Ereignisse und Dinge kann natürlich auch der»Idee« selbst schädlich werden, von anderem ganz zu schweigen.
    Jetzt das zweite Geschichtchen.
    Marja Iwanowna feierte am ersten April vorigen Jahres ihren Namenstag. Am Abend waren einige Gäste da, nur sehr wenige Personen. Auf einmal kommt Agrafena ganz atemlos herein und sagt, im Flur vor der Küche schreie ein ausgesetztes kleines Kind und sie wisse nicht, was sie tun solle. Diese Nachricht regte alle sehr auf, alle gingen hin und sahen einen Spankorb und in dem Spankorb ein drei oder vier Wochen altes, wimmerndes kleines Mädchen. Ich nahm den Korb auf, trug ihn in die Küche und fand sogleich einen zusammengefalteten Zettel: »Liebe Wohltäter, erweist diesem kleinen, auf den Namen Arina getauften Mädchen wohlwollende Hilfe; dann werden wir und sie lebenslänglich unsere Tränen zum Thron Gottes hinaufsenden, und wir wünschen Euch auch Glück zum Namenstag. Leute, die Ihr nicht kennt.« Aber nun brachte mich der von mir so hochgeachtete Nikolai Semjonowitsch sehr auf: er machte ein sehr ernstes Gesicht und erklärte, die Kleine müsse unverzüglich ins Findelhaus geschickt werden. Ich wurde sehr traurig. Sie lebten sehr ökonomisch, hatten aber keine Kinder, und Nikolai Semjonowitsch war immer froh darüber. Ich nahm die kleine Arinotschka behutsam aus dem Korb heraus und hob sie an den Schulterchen in die Höhe; aus dem Korb kam ein säuerlicher, scharfer Geruch, wie er Säuglingen, die lange Zeit nicht gewaschen sind, eigen ist. Nachdem ich mich eine Weile mit Nikolai Semjonowitsch gestritten hatte, erklärte ich ihm plötzlich, ich würde das kleine

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