Der Jüngling
die Zeit, wo ich fünf oder sechs Jahre alt war, sehe ich am häufigsten – natürlich mit einem Gefühl des Widerwillens – eine Gesellschaft von klugen Frauen mit ernsten, finsteren Gesichtern um einen runden Tisch versammelt, auf dem Scheren, Stoffe, Schnittmuster und Modebilder liegen. Alle geben sie ihr Urteil ab und disputieren, schütteln wichtig und langsam die Köpfe, nehmen Maß und berechnen und machen sich zum Zuschneiden fertig. Alle diese sonst so freundlichen Personen, die mich so lieb hatten, waren auf einmal unnahbar geworden; wenn ich zu laut wurde, schickten sie mich sofort hinaus. Selbst meine arme Kinderfrau, die mich an der Hand hielt, antwortete nicht auf mein Rufen und auf mein Zupfen, sondern schaute und lauschte nur, als ob da ein Paradiesvogel säße und sänge. Diesen strengen Ausdruck der verständigen Gesichter und das wichtige Wesen vor dem Beginn des Zuschneidens kann ich mir noch heute nicht ohne eine sehr unangenehme Empfindung vorstellen. Sie, Tatjana Pawlowna, finden ja am Zuschneiden ein besonderes Vergnügen! Aber so aristokratisch das auch sein mag, ich liebe doch mehr eine Frau, die gar nicht arbeitet. Beziehe das nicht auf dich, Sofja... Wie solltest du auch! Die Frau ist auch ohne das eine große Macht. Das ist übrigens auch dir bekannt, Sonja. Wie denken Sie darüber, Arkadij Makarowitsch? Sie machen gewiß Opposition?«
»Nein, durchaus nicht«, antwortete ich. »Besonders gut gefällt mir der Satz, daß die Frau eine große Macht ist, obgleich ich nicht verstehe, in welche Verbindung Sie das mit der Arbeit bringen. Aber daß man arbeiten muß, wenn man kein Geld hat, das wissen Sie selbst.«
»Aber nun genug!« sagte er, zu meiner Mutter gewendet, die über das ganze Gesicht strahlte (als er sich an mich wandte, hatte sie heftig zu zittern angefangen), »wenigstens in der ersten Zeit möchte ich keine Handarbeiten zu sehen bekommen; ich bitte um meiner selbst willen darum. Du, Arkadij, bist als moderner Jüngling gewiß ein bißchen Sozialist; na, willst du es mir glauben, mein Freund, daß die größten Liebhaber des Müßigganges unter dem zeit seines Lebens arbeitenden Volk zu finden sind?«
»Diese Leute lieben vielleicht die Erholung, aber nicht den Müßiggang.«
»Nein, gerade den Müßiggang, das völlige Nichtstun, das ist ihr Ideal! Ich habe einen Menschen gekannt, der lebenslänglich arbeiten mußte, obwohl er nicht zum Volk gehörte; er besaß einen ziemlich entwickelten Verstand und einen Blick für das Allgemeine. Der gab sich sein ganzes Leben hindurch, vielleicht täglich, mit Genuß und Rührung seinen Träumereien vom völligen Müßiggang hin; er malte sich sozusagen sein Ideal bis zur höchsten Vollendung aus, bis zu unbegrenzter Unabhängigkeit und ewiger Freiheit, zu träumen und müßig zu reflektieren. So ging das mit ihm, bis er unter der Arbeit vollständig zusammenbrach; zu helfen war ihm nicht, er starb im Krankenhaus. Ich bin manchmal allen Ernstes geneigt, zu glauben, daß der angebliche Genuß, den die Arbeit gewährt, eine Erfindung müßiger Leute ist, natürlich tugendhafter Leute. Das ist eine der ›Genfer Ideen‹ vom Ende des vorigen Jahrhunderts. Tatjana Pawlowna, vorgestern habe ich mir aus einer Zeitung eine Annonce ausgeschnitten, da ist sie« (er zog ein Blättchen Papier aus der Westentasche), »das stammt von den unzähligen ›Studenten‹, die die alten Sprachen und Mathematik verstehen und bereit sind, zur Erteilung von Unterricht ›nach auswärts‹ zu gehen oder in eine Dachstube oder sonstwohin. Also hören Sie: ›Eine Lehrerin bereitet zumEintritt in alle Lehranstalten vor‹ (hören Sie: in alle!) ›und gibt auch Rechenunterricht‹, – das ist nur eine Zeile, aber sie ist klassisch! Sie bereitet zum Eintritt in alle Lehranstalten vor, also natürlich doch auch im Rechnen? Nein, vom Rechnen spricht sie besonders. Das ist schon der richtige Hunger, das ist schon der höchste Grad der Not. Rührend ist dabei gerade diese Unkenntnis: offenbar hat sie sich niemals zur Lehrerin ausgebildet und dürfte kaum imstande sein, in irgendeinem Fach zu unterrichten. Aber vor dem Ertrinken trägt sie ihren letzten Rubel in die Zeitungsexpedition und läßt einsetzen, daß sie für alle Unterrichtsanstalten vorbereite und außerdem Rechenstunde gebe. Per tutto mundo e in altri siti.«
»Ach, Andrej Petrowitsch, der sollte man helfen! Wo wohnt sie?« rief Tatjana Pawlowna.
»Ach, deren gibt es eine Menge!« Er schob die
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