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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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träumen.
    Ich erwachte vom hellen, durch die rosafarbenen Vorhänge dringenden Tageslicht und einem köstlichen Duft, der unter der Tür hindurch in mein Zimmer waberte. Der Geruch war gleichermaßen exotisch und vertraut – Zimt und Lorbeer und Ingwer und irgendetwas, was ich nicht benennen konnte – und ließ meinen Magen knurren.
    Mir tat noch immer alles weh, was sich unangenehm bemerkbar machte, als ich den Kopf drehte, um auf die Uhr zu sehen. Es war zwei Uhr nachmittags. Doch ich fühlte mich nicht länger schwach und zittrig, wenngleich mir die Ereignisse der vergangenen Nacht noch immer greifbar nah und real vorkamen. Noch immer konnte ich mich an die Panik erinnern, die mich kurz vor dem Untergehen überfallen hatte. Noch immer konnte ich Leos Umarmung spüren.
    Während ich mich fragte, ob Leo wohl schon auf seiner Angeltour war, bewegte ich mich vorsichtig aus dem Bett. Ich zog meine Pyjamahose ein Stück hoch und stellte fest, dass die Kratzer an meinen Beinen dank Moms Behandlung mit Wundsalbe zu verheilen begannen. Dann humpelte ichdie Treppe hinunter, wobei der köstliche Duft immer stärker wurde.
    Mom stand in der Küche an der Arbeitsplatte und war von verschiedenen Zutaten umringt. In einer Schüssel lagen geputzte rote Kartoffeln neben frischen Maiskolben, daneben wartete ein mit rosafarbenen Garnelen beladenes Schneidebrett. Ein großer silbriger Topf mit Wasser köchelte auf dem Herd vor sich hin.
    Als ich hereinkam, drehte sich Mom zu mir, und ich sah, dass ihre Augen von Tränen gerötet waren. Alarmiert erinnerte mich daran, wie sie mir die Nachricht von Isadoras Tod überbracht hatte. Doch dann entdeckte ich, dass sie gerade damit beschäftigt war, eine Zwiebel zu schneiden.
    »Du bist wach«, sagte sie, legte ihr Messer beiseite und kam zu mir. Sie wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und sah mich aufmerksam an. »Wie fühlst du dich?«
    »Viel besser«, erwiderte ich. »Ich hab den Schlaf gebraucht.«
    Verhalten lächelte ich Mom an; sie schien jetzt nicht sauer zu sein und war es auch gestern Nacht nicht gewesen, nachdem sie Mr. Illingworth verabschiedet hatte. Doch Leo hatte sie mit keiner Silbe erwähnt. Ich deutete auf den Kochtopf, da ich wusste, dass ich zu weinen anfangen würde, wenn ich mit meinen Gedanken länger bei Leo verweilte. »Was machst du denn da?«
    »Low Country Boil«, erwiderte Mom und wandte sich wieder ihren Zutaten zu. »Ich dachte, du könntest ein bisschen von unserer herzhaften regionalen Küche vertragen. Ein alter Klassiker. Meine Mutter hat es schon gekocht, und davor meine Großmutter.«
    »Es riecht köstlich«, sagte ich, trat zu meiner Mutter an die Arbeitsplatte und begutachtete die verschiedenen Zauberkunststücke,mit denen sie gleichzeitig beschäftigt war. »Was kommt denn rein?«
    »Alles«, rief Mom lachend, und ich bemerkte, wie viel Freude ihr das Kochen bereitete. »Kartoffeln, Mais, Würstchen, Garnelen. Oh, und natürlich die Old-Bay-Gewürzmischung – das war’s bestimmt, was du gerochen hast. Die gibt dem Ganzen erst den richtigen Kick.« Mom sah mich von der Seite an und fragte beiläufig: »Möchtest du zusehen?«
    »Eigentlich … könnte ich dir doch … helfen«, entgegnete ich, plötzlich neugierig geworden und wild darauf, mich mit einer handfesten, realen Aktivität zu beschäftigen.
    Innerhalb weniger Minuten hatte ich gelernt, die Garnelen zu schälen und zu entdarmen, und war zu meiner Überraschung nicht völlig angeekelt. Mit meinen Händen zu arbeiten, war irgendwie befriedigend; der Arbeitsprozess hatte beinahe etwas Wissenschaftliches an sich. Mom und ich arbeiteten im perfekten Rhythmus, während sie mir das Messer herüberreichte und ich ihr in regelmäßigen Abständen einen Maiskolben gab – wie zwei Chirurgen, dachte ich.
    Nachdem alle Zutaten vorbereitet waren und nun in den Topf gelegt werden konnten, beobachtete ich genauestens den Kochvorgang, wobei jedes Element aufgelöst wurde und auf die anderen Zutaten einwirkte. Die Kartoffeln wurden roter, die Garnelen blasser, der Mais nahm ein helles Sonnengelb an. Kochen, so wurde mir klar, war der Chemie nicht unähnlich. Beide Künste beschäftigten sich letztlich mit Verwandlung.
    Als das Gericht fertig war und Mom und ich essen konnten, hatte ich beinahe schon die Feindseligkeit vergessen, die in den letzten Tagen zwischen uns geherrscht hatte. Das Kochenhatte uns wieder vereint, und wir lächelten uns an, als Mom sich eine Flasche Bier öffnete (die

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